Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation hatte der Kaiser mehrere Beichtväter, die zugleich theologisch geschult waren. Sie gehörten bis zu seinem Tod zu seinen engsten Vertrauten. Religiosität war dabei keine Privatangelegenheit, sondern Teil einer Hofkultur, die im Mittelalter und damit noch lange vor dem Aufkommen der Massenmedien auf Symbolwirkung in der Öffentlichkeit zielte.

Die Busstätigkeit wurde im Mittelalter in der Öffentlichkeit vollführt, wenngleich sie in Irland bereits im sechsten und siebten Jahrhundert durch die private Beichte ersetzt wurde. Zu einer allgemeinen Individualisierung des Gefühlslebens kam es in Europa erst im achtzehnten Jahrhundert, bevor im neunzehnten Jahrhundert die Verbürgerlichung der Gesellschaft ihren Höhepunkt fand.
In Russland ticken die Uhren anders. Wenngleich vom Kreml nicht bestätigt, ist es doch interessant zu wissen, dass Putin in dem Metropoliten Tichon Schwekunow einen Beichtvater oder geistlichen Mentor hat, der sich zudem ungeniert zur Politik Putins äussert und diesen in seinem Krieg gegen die Ukraine öffentlich unterstützt. Der Beiname „Beichtvater Putins“ wurde angeblich von der „Financial Times“ geprägt, aber deswegen mag er nicht weniger zutreffend sein.
Man kann diesen Sachverhalt aus Ausdruck der Tatsache werten, dass nicht nur der orthodoxe Christ Putin spirituelle Anleitung sucht, sondern gerade auch in seiner Eigenschaft als Präsident eine öffentlich zur Schau gestellte Beziehung zur Kirche pflegt – zum Schaden vor allem der Ukraine. Denn Schewkunow beteiligt sich aktiv an Putins Plänen, die Identität des Nachbarlandes umzuschreiben.
So war Schwekunow massgeblich an der Neugestaltung des Museumskomplexes „Neu-Chersones“ bei Sewastopol beteiligt. Das antike Chersones gilt als Taufbecken Wladimirs d. G. und damit der Kiewer Rus und dient Putin und Schewkow dazu, Russland als dessen Erbe ideologisch vor westlichem Einfluss abzusichern: Da das Herz der Kiewer Rus nun einmal, wie der Name schon besagt, Kiew ist und zur Ukraine gehört, muss Cherson (das antike Chersones) als Gegenentwurf herhalten.
Mit dem Untergang der Sowjetunion hatte Russland sein unter Katharina der Grossen in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts erobertes „Neurussland“ aus seinem Herrschaftsbereich verloren, also das Gebiet der südlichen Ukraine einschliesslich der Krim. Wirklich russisch war die Ukraine ohnehin nie gewesen; trotz der unter Katharina d. G. einsetzenden russischen Kolonisierung bestand die Bevölkerung noch Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zu drei Vierteln aus ukrainischen Bauern.
Die Stadt ist nicht russisch genug? Gründen wir sie einfach neu!
Die Krim selbst beherbergt mit Sewastopol eine Stadt, die für die russische Geschichte von besonderer Bedeutung ist. Sewastopol ist ein griechischer Ableger von Cherson, bevor es unter Katharina als russische Stadt neu gegründet wurde, worin Putin abermals ein Vorbild findet. Aber es war auch Frontstadt im Krimkrieg der 1850er Jahre gegen Grossbritannien, Frankreich und das Osmanische Reich und hat später lange Zeit den Vormarsch der Nationalsozialisten aufgehalten.
Sewastopol steht also für Widerstand und Heldentum, Cherson wiederum für staatliche Legitimation durch Byzanz, beide aber befinden sich im Schatten von Kiew. Um die besetzten ukrainischen Landesteile als russischen Besitz zu legitimieren , liess Putin auf der Krim den erwähnten Museumskomplex errichten, der die Geschichte im russischen Sinn und für Touristengruppen erfahrbar erzählt – selbst um den Preis der Zerstörung antiker Denkmäler, die russischem Kitsch weichen müssen.
Dass ein Priester wie Tichon Schewkunow, auf den dieser Tage angeblich ein Attentat geplant war, sich zum willfährigen Gehilfen eines solches Projekts machen lässt, zeigt, wie die tradtionell enge Verquickung von Staat und Kirche alle Regierungen überdauert hat, zumal das Moskauer Patriarchat schon seit seiner Gründung 1589 gegen alles Westliche agitierte. Das schloss die Ukraine und Belarus mit ein, deren Orthodoxie man anzweifelte. Putins Beichtvater ist eine zentrale Symbolfigur dieser in der Gegenwart fortwirkenden Tradition. In Russland ist auch die Kirche moralisch bankrott.
Literatur
Gerd Althoff, 2014. Spielregeln der Politik: Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt: wbg.
Neil Ascherson, 1998. Schwarzes Meer. Frankfurt/ Main: Suhrkamp.
Andreas Kappeler, 1992. Russland als Vielvölkerreich: Entstehung, Geschichte, Zerfall. München: C.H. Beck.
Catherine Merridale, 2014. Der Kreml: Eine neue Geschichte Russlands. Frankfurt/ Main: S. Fischer.
Heinz Schilling, 2020. Karl V.: Der Kaiser, dem die Welt zerbrach. München: C.H. Beck.
Hubert Wolf, 2015. Krypta: Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte. Bonn: bpb.