Die rassistisch motivierten Morde des sog. NSU gehören ohne Zweifel zu den erschütterndsten Serienverbrechen der deutschen Nachkriegszeit, der ab dem 17. April stattfindende Strafprozess zieht schon jetzt zu Recht eine hohe mediale Aufmerksamkeit auf sich.
Auch die unrühmliche Rolle deutscher Ermittlungsbehörden muss dabei zur Sprache kommen, ebenso wie die näheren Motive zweier Mörder, von denen der eine, vor die Wahl gestellt, Abitur zu machen oder aus dem Untergrund heraus Menschen umzubringen, sich tatsächlich für letzteres entschieden hat.
Dass Türken und Türkdeutsche in und ausserhalb Deutschlands ein gesteigertes Interesse am Verlauf des Strafprozesses haben, ist also mehr als verständlich, hätte doch jede in Deutschland lebende Person türkischer Herkunft ein Anschlagsziel der NSU-Terroristen sein können. Umso ärgerlicher ist, dass es in diesem Zusammenhang einige Vorkommnisse gibt, die nicht nur mir unangemessen erscheinen.
Da ist zum einen die verpatzte Sitzreservierung türkischer Medienvertreter, die jetzt Zeter und Mordio schreien, weil ihre Teilnahme am Prozess nicht gesichert ist. Doch abgesehen davon, dass dies mehr oder weniger selbst verschuldet sein dürfte, ist die Forderung nach einer Bevorzugung bei der Sitzplatzvergabe nur auf den ersten Blick einleuchtend.
Denn wer eine solche Forderung erhebt, der muss auch konsequent sein – dann müssen ebenso bei einem Frauenmörderprozess weibliche Journalisten gegenüber ihren männlichen Kollegen bei der Sitzplatzvergabe bevorzugt werden, ebenso bei einem Kinderschänderprozess Journalisten mit Kindern vor solchen ohne Kinder usw. Dass ein Gericht eine solche Auswahl nicht treffen kann, ohne sich selber in den Verdacht der Befangenheit zu bringen, ist offensichtlich.
Käme nämlich das Gericht auch noch der Forderung des Koordinierungsrates der Muslime in Deutschland (KRM) nach einem festen Sitzplatz nach, so würde es damit noch vor Prozessbeginn einen Hass auf Muslime als tragendes Motiv der NSU-Morde vorwegnehmen. Doch ein solches Motiv ist alles andere als sicher, ebenso wie schlichter Ausländerhass als zentrales Mordmotiv in Frage kommt.
Denn da wir es beim sog. NSU (wie schon der Name sagt: “Nationalisozialistischer Untergrund”) mit Neonazis zu tun haben, stellt sich die Frage, warum nur Türken bzw. Türkischstämmige (mit lediglich zwei Ausnahmen) ins Visier genommen wurden. Nicht zuletzt der Anschlag auf die Kölner Keupstrasse war ein versuchter Massenmord in einer Gegend, die hauptsächlich von Türkischstämmigen frequentiert wird.
Doch Neonazis hassen meist auch andere Ausländer oder solche, die sie als Ausländer ansehen. Warum gab es keine Mordversuche an Afrikanischstämmigen? Und warum keine an Juden, sind Neonazis doch ausnahmslos Antisemiten! Wären diese aus Sicht der Mörder nicht ebenfalls naheliegende Anschlagsziele gewesen?
Ob der Prozess etwas zur Klärung der Motive wird beitragen können, bleibt zu hoffen. Eine bevorzugte Sitzplatzvergabe würde daher ein Urteil über die näheren Motive der NSU-Terroristen vorwegnehmen, das Gericht sich damit selbst dem Vorwurf der Befangenheit aussetzen. Diesen Fehler zu begehen wäre fatal und würde den Prozess schon im vorhinein unnötig belasten.
Und darum muss an dieser Stelle noch etwas zur Haltung der türkischen Regierung gesagt werden, die eigene Vertreter beim NSU-Mordprozess entsenden will – was von einer gewissen Impertinez und Heuchelei zeugt. Denn die Türkei hatte ihre eigene NSU-Mordserie, und zwar vor dreissig Jahren im südtürkischen Kahramanmaraş, als über Nacht die Häuser von Aleviten markiert wurden, bevor in den darauffolgenden Tagen mindestens 100 ihrer Bewohner gezielten Mordanschlägen zum Opfer fielen.
Dieses “Pogrom von Kahramanmaraş” ist bis heute nicht nur nicht aufgeklärt worden, sondern es ist die AKP-geführte Regierung unter Ministerpräsident Recep Erdogan, die jegliche Aufklärung verweigert, noch nicht einmal einen Gedenkstein für die Opfer errichten und überhaupt das ganze Verbrechen in Vergessenheit geraten lassen will! Diese Doppelmoral ist leider typisch für die türkische Regierung:
– Da werden dem Nachbarn Griechenland, mit der Begründung, die Türkei habe das internationale Seerechtsabkommen nicht unterzeichnet, anstelle von zwölf Seemeilen Hoheitsgebiet um ihre ägäischen Inseln nur sechs zugestanden, während man selbst im Schwarzen Meer ganz selbstverständlich zwölf Seemeilen beansprucht.
– Da erklärte Erdogan 2008 in der Kölnarena die Assimilation seiner Landsleute an die deutsche Gesellschaft zum Verbrechen, während die Zwangsassimilation der Kurden an die türkische Leitkultur seit jeher türkische Praxis ist.
– Und als Hamas-Terroristen in Gaza massenhaft Raketen auf Israel herabregnen liessen, womit sie einen Gegenangriff Israel provozierten, war es ebenfalls Erdogan, der den Israelis zurief, sich nicht so anzustellen, während er selbst angesichts einiger Querschlägern, die von Syrien aus auf türkischem Territorium landeten, gleich den NATO-Bündnisfall ausrief.
All dies sollte man angesichts der schrillen Töne, die im Zusammenhang mit der Sitzplatzvergabe beim NSU-Mordprozess angestimmt werden, im Hinterkopf behalten. Es wäre dem Prozess angemessen, wenn KRM und türkische Regierung von allen Forderungen Abstand nehmen würden, die so aussehen, als wolle man politisch Honig aus der Sache saugen.