Ich kann mich noch gut an die Debatte erinnern, wie sie in den Neunzigern heftig im Gange war. Damals schon ging es um Fragen der Demokratie in der Islamischen Welt und warum es dort so wenig sozialen Fortschritt gibt (oder war das gar nur ein westliches Vorurteil?) und damals schon war sich der intellektuelle Mainstream sicher, dass die ganze Mailaise allein am Westen liegt.
Einer der wenigen, die gegen diese Sicht der Dinge Einspruch erhoben, war der damals bei vielen unbeliebte, gar verhasste Politologe Bassam Tibi. Dieser hatte zu behaupten gewagt, dass die Sozialstrukturen der Islamischen Welt sich nicht modernisieren lassen, solange die islamische Kultur auf der Stelle tritt. Tibi attestierte der Islamischen Welt ein Modernedefizit und kritisierte, dass eine Anpassung an spezifische Gegebenheiten der Moderne noch längst nicht dasselbe sei wie eine kulturelle Bewältigung sozialen Wandels. ((Bassam Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels, Frankfurt/Main 1985, S. 90; ders., Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Frankfurt/Main 1992, S. 59.)) Tibi war gefragter Gesprächspartner in den Medien und auch sonst recht populär, aber bei den Intellektuellen, die alle Schuld beim Westen suchten, kam er nie an.
Denn “wir” sind es doch, die gar kein Interesse daran haben, dass die islamischen Länder demokratisch werden. “Wir” sind es, die diese ganzen Diktaturen unterstützen, weil “wir” nämlich nur Interesse am nahöstlichen Öl haben, weswegen “wir” all die Ghaddafis und Mubaraks und Saddam Husseins unterstützen. Würde sich der Westen, würden “wir” uns entschliessen, diese Diktatoren fallenzulassen oder gar zu stürzen, dann würden “wir” schon sehen, wie schnell die Massen in der islamischen Welt sich nach der Demokratie drängen – aber “wir” haben eben kein Interesse daran, so der Tenor damals.
Doch Anfang des 21. Jahrhunderts sollte ein amerikanischer Präsident genau diese Haltung Lügen strafen. George W. Bush hätte der Held der Linken sein müssen, die immer überzeugt waren, dass die arabische Demokratie ganz rasch Realität werden würde, sobald die Diktatoren erst einmal gestürzt seien. Wie hinreichend bekannt, war beides nicht der Fall: Bush war den Progressiven aller Ländern von Anfang an verhasst und weder der Sturz der Taliban in Afghanistan noch derjenige Saddam Husseins im Irak hat zu einer mustergültigen Demokratie geführt.
Und heute? Wir sehen zwar, dass Bassam Tibi (und nach ihm Fareed Zakaria mit ganz ähnlichen Argumenten) recht behalten hat. Doch die Debatte hat sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt und so sind die Argumente immer noch dieselben, wenn auch mit anderem Vorzeichen: Jetzt rührt die Malaise der islamisch-arabischen Welt daher, dass “wir”, der Westen, Chaos angerichtet haben, als “wir” Saddam Hussein stürzten. Hätten “wir” uns bloss herausgehalten, dann gäbe es heute keine Qaida, keinen ISIS, keine Nusra-Front und was da noch an radikalen Gruppen kreucht und fleucht. Für viele Nahosterklärer ist eben alles, was in der arabischen und islamischen Welt schief läuft, externen Faktoren zu verdanken, äusseren Mächten, die etwas getan haben oder nicht getan haben oder etwas ganz anders hätten tun sollen.
Einer, der mittlerweile ganz oben auf dieser Der-Westen-ist-schuld-Welle der Empörung reitet, ist der umtriebige Publizist Jürgen Todenhöfer, der in Talkshows die reine Friedfertigkeit verkörpert, auf seiner Facebook-Seite dafür umso ungehemmter seinem heiligen Zorn gegen die USA freien Lauf lässt. Die damalige Regierung Bush beschuldigt er eines “völkerrechtswidrigen Angriffskrieges” und damit der Verantwortung für “500.000 ermordete Iraker”. Das ist natürlich pure Heuchelei, denn derselbe Todenhöfer sieht den syrischen Präsidenten Assad als unverzichtbaren Partner für einen Frieden in Syrien.
Schlimmer aber ist die Lüge von den 500.000 Toten, die hier aufgetischt wird. Sie ist deshalb so perfide, weil Todenhöfer den Islamisten damit überhaupt erst das Motiv liefert, möglichst viele Zivilisten umzubringen, bezeichnet diese Zahl doch keineswegs allein die Opfer der amerikanischen Luftangriffe, sondern schliesst auch diejenigen ein, die erst nach dem Sturz des Baath-Regimes Opfer von Anschlägen wurden. ((Die Zahl 500.000 ist geschätzt für die Zeit bis 2011 und stammt vom “PLOS Medicine Survey of Iraq War Casualties”. Das “Iraq Body Count Project” hingegen dokumentierte für die Zeit bis 2013 knapp 300.000 getötete Zivilisten, s. hier.)) Wer einen funktionierenden moralischen Kompass hat, der weiss: Wen Max ermordet hat, dafür trägt Max die Verantwortung; wen Moritz ermordet hat, dafür trägt Moritz die Verantwortung.
Leute wie Todenhöfer, der hier stellvertretend für einen Grossteil der westlichen Linken steht, bringen dagegen ihre ganz eigene Kausalität ins Spiel, indem sie jeden Toten, den Dschihadisten und Ex-Baathisten zu verantworten haben, auf das Schuldkonto der USA umbuchen, die mit dem Sturz Saddam Husseins für alles haftbar gemacht werden, was seitdem passiert. So können Terroristen eine einfache Rechnung aufmachen: Je mehr Zivilisten wir umbringen, desto schlechter stehen die USA da – also bringen wir möglichst viele Zivilisten um!
Die Logik wirkt. Todenhöfer hat natürlich mit alldem nichts zu tun, ist Gewalt doch so gar nicht in seinem Sinne. Er gehört nur zu den vielen Intellektuellen im Westen, die uns auch in hundert Jahren noch, wenn die Probleme der arabisch-islamischen Welt nach wie vor dieselben sind, uns erklären werden, dass an allem der Westen die Schuld trägt. Die Terroristen bedanken sich.