Israel dürfte im wesentlichen seine Kriegziele im Gazastreifen erreicht haben. Offen bleibt, wie die Hamas oder eine andere Terrorgruppe dauerhaft daran gehindert werden kann, israelische Bürger hinzumetzeln. Vor allem die zahlreichen Tunnel zur ägyptischen Seite der Grenze sind ein Problem. Hinzu kommen die anderen Kriegsfronten. Und schliesslich sind da noch die Geiseln.
Darauf angesprochen, ob er die Zerstörung der Hamas für dringlicher halte als die Freilassung der Geiseln mithilfe eines Abkommens, sagte der israelische Premier Netanjahu im Interview mit dem “Time”-Magazin, dass beide Ziele einander ergänzten: Je mehr militärischen Druck Israel ausübe, desto näher komme es der Verwirklichung beider Ziele.
Tatsächlich könnte die Hamas auf diese Weise gezwungen sein, den Preis für eine Freilassung der Geiseln herabzuetzen. Wir erinnern uns: Als vor dreizehn Jahren der israelische Soldat Gilad Shalit aus Gefangenschaft der Hamas befreit wurde, musste Israel im Gegenzug 1027 Gefangene freilassen, darunter Mörder, die israelisches Blut an ihren Händen haben. Ihre Freilassung bedeutete auf längere Sicht erneute Gefahr für Israel.
Ein Pakt mit dem Teufel – doch ohne Alternative?
Wenn Netanjahu jedoch weiterhin auf der vollständigen Zerstörung der Hamas beteht, werden für diese die Geiseln wertlos. Die Hamas könnte sich dann dazu entschliessen, sie allesamt zu töten. Genau das ist mit sechs Geiseln geschehen, deren Leichname die israelische Armee kürzlich aus Khan Yunis im Gazastreifen bergen konnte. Sie alle wiesen Spuren von Schussverletzungen auf.
Um die letzten in der Gewalt der Hamas befindlichen Geiseln freizubekommen, ist ein Pakt mit dem Teufel daher ohne Alternative. Es mag eine schwer erträgliche Vorstellung sein, die Mörder so vieler Unschuldiger nicht restlos der Gerechtigkeit zu überführen, sprich: sie zu eliminieren (wenn man ihrer schon nicht habhaft werden und sie vor ein ordentliches Gericht bringen kann), aber anderenfalls droht der Tod sämtlicher Geiseln.
Von denen werden jetzt schon nicht mehr viele am Leben ein. Nach Angaben amerikanischer Regierungskreise dürfte ihre Anzahl höchstens noch fünfzig betragen. Diese Schätzung ist zwei Monate alt, sodass mittlerweile deutlich weniger überlebt haben könnten. Die Zeit für die letzten Geiseln läuft daher ab. Netanjahu wird sich in Gaza militärisch zurückhalten müssen oder es gibt bald nichts mehr zu verhandeln.
Zwar gehört es zur Strategie der Hamas, psychologischen Druck auf die Angehörigen der Geiseln und damit auf die israelische Öffentlichkeit auszuüben. Nach der Hinrichtung der sechs Geiseln ist die Chance auf ein Abkommen noch unrealistischer geworden, wie israelische Unterhändler und die US-Regierung urteilen. Doch immer noch sind in Israel die Stimmen zahlreich, die sich für ein Abkommen aussprechen.
Dazu zählen nicht nur die Hunderttausenden, die in Tel Aviv auf die Strasse gehen, sondern auch einige Kolumnisten der “Times of Israel”, darunter ihr Herausgeber David Horovitz, der erst kürzlich schrieb, dass die Verhandlung über ein Geiselabkommen mit den “genozidalen islamistischen Extremisten” eine hässliche Herausforderung sei, aber ebenso eine “nationale Notwendigkeit.”
Ein Preis, den zu zahlen es wert ist?
Die Ermordung der sechs Geiseln durch die Hamas hat diesen Trend keineswegs gekippt, im Gegenteil. Seitdem Aufnahmen aus einem Tunnel der Hamas bekannt wurden und eine Öffentlichkeit erstmals erahnen kann, wie bedrückend und quälend das Leben der Geiseln in der unterirdischen Welt gewesen sein muss und für manche noch ist, sind die Forderungen vieler Israelis nach einem Abkommen nicht abgerissen.
Horovitz weist darauf hin, dass nach Ansicht sowohl der israelischen Armee als auch anderer Sicherheitsexperten der Preis, den die Hamas für eine Freilassung der Geiseln fordert, es wert ist. Zwar können freigepresste Terroristen den Terror gegen Israel wiederaufnehmen, aber ebenso erneut eingesperrt werden. Derweil geht Israel verstärkt dazu über, die iranische Aggression im Norden einzudämmen.
Was bedeutet das alles für Deutschland, was für Europa? Beide sollten weiter fest an der Seite Israels stehen und es aktiv unterstützen. Ob Netanjahus vermutete Hinhaltetaktik in Bezug auf ein Geiselabkommen richtig und der Lage angemessen ist, oder sich verkalkuliert hat, mag eines Tages ein israelischer Untersuchungsausschuss entscheiden. Im Moment geht es darum, Israels Überleben zu sichern.