Leben im Zeitalter der Angst

Unsere Zeit, schrieb der Literaturwissenschaftler Richard Alewyn, sei das “Zeitalter der Angst” getauft worden, und keine Diagnose der Gegenwart unterlasse es, mit dem Begrifff der Angst zu operieren. Alewyns Befund stammt aus dem Jahr 1977, aber bis heute glauben die Menschen gerne, dass früher alles besser war. Da kommen Statistiken über eine ansteigende Gewaltkriminalität genau zur rechten Zeit.

Denn die Angst geht um vor dem Messermann. Und diesmal scheint die Angst begründet. Schon vor einiger Zeit musste die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik eingestehen, dass in den vergangenen Jahren die Gewaltkriminalität in der Hauptstadt angestiegen ist, wobei die Täter überwiegend jung und männlich sind und einen nicht-deutschen Hintergrund haben. Das gelte auch für Messergewalt.

Dabei führt die Frage nach der Staatsangehörigkeit in die Irre. Die Frage nach dem sozialen Milieu ist weitaus relevanter zum Verständnis von Gewaltverbrechen und das schliesst die Möglichkeit ein, dass bestimmte migrantische Gruppen überrpräsentiert sind. Diese aus der Statistik herauszufiltern, hat jedoch seine Tücken.

Denn die Sicherheitsbehörden notieren sehr wohl die Staatsangehörigkeit von Straftätern und einer Straftat Verdächtigen, aber nicht einen etwaigen Migrationshintergrund. Aufschluss darüber geben daher möglicherweise die Vornamen der Tatverdächtigen und um eine solche Sonderauswertung hat nun ausgerechnet die migrationsfeindliche AfD den Landtag NRW gebeten.

Ein Diskurs zwischen den Extremen

AfD hin oder her – Fakten sind und bleiben Fakten. Nicht nur sind Tatverdächtige mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit überrepräsentiert, sondern, wie der Journalist Deniz Yücel nachgerechnet hat, auch unter den deutschen Tatverdächtigen überwiegen diejenigen mit meist türkischem Migrationshintergrund. Welche Schlussfolgerung daraus zu ziehen ist, wird noch zu klären sein. Dazu später mehr.

Widmen wir uns noch kurz dem „Bundeslagebild Organisierte Kriminalität“, den Bundesinnenministerin Nancy Faeser und der Präsident des BKA, Holger Münch, vor einiger Zeit vorgestellt haben und demzufolge die deutschen Tatverdächtigen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ein knappes Drittel ausmachen. Auch dies passt ins Bild der Sonderauswertung aus NRW, selbst wenn die deutschen Tatverdächtigen zu einhundert Prozent ohne Einwanderungsgeschichte wären.

Man kann es also drehen oder wenden, wie man will – es ist ein deutlicher statistischer Zusammenhang zwischen Gewaltkriminalität und Migration festzustellen. Dass selbstverständlich nur eine Minderheit der Migranten überhaupt gewalttätig wird, soll dabei nicht unerwähnt bleiben. Aber die Frage bleibt, warum dies so ist. Dafür lassen sich zwei mögliche Gründe benennen.

Zum einen ist denkbar, dass in den Migrationsströmen der vergangenen Dekade überdurchschnittlich viele Randexistenzen den Weg nach Deutschland gefunden haben, denen ihrer Gewaltneigung wegen der Boden unter den Füssen brannte und die sich für ihr Betätigungsfeld eine neue Arena suchten. Darunter mögen auch seelisch instabile Gestalten sein, die eine Neigung zum religiösen Fanatismus haben.

Zum anderen besteht die Möglichkeit, dass in dem Milieu, das der Dortmunder Pädagoge Ahmet Toprak als “konservativ-autoritär” bezeichnet, ein gewisses Mass an Aggressivität in der Familie gefördert wird. Auch die des Rechtspopulismus unverdächtige Grünen-Politikerin Lamya Kaddor hat beobachtet, dass in manchen muslimischen Familien “das machohafte Verhalten der Jungen von den Eltern geradezu gefördert” werde, nämlich “als Rüstzeug für das künftige Leben.”

Aus diesem Befund kann man wiederum zwei Schlussfolgerungen ziehen: Man kann, wie die AfD es tut, ein allgemeines Misstrauen gegen Zuwanderung schüren und dafür werben, in einer weitgehenden Abschottung des Landes das gesellschaftliche Heil zu finden. Oder man kann, wie es die bürgerliche Mitte tun sollte, sich zur Einwanderungsgesellschaft bekennen und zugleich die damit verbundenen Risiken zu minimieren versuchen.

Der erwähnte Ahmet Toprak hat bereits eine Reihe von Vorschlägen gemacht, wie man toxische Sozialstrukturen muslimischer Provenienz zugunsten einer deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich als säkular und pluralistisch versteht, aufbrechen kann . Allerdings bewegt sich in Deutschland der mediale Diskurs darüber vor allem zwischen den Extremen der Panikmache (seitens der AfD und ihres Umfeldes) und der Verharmlosung (seitens vieler Journalisten und Intellektuellen).

Gewaltkriminalität sinkt und sinkt – dann steigt sie wieder

Betrachtet man die Entwicklung der Kriminalität (einschliesslich der Gewaltkriminalität) über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten, so ist jedenfalls Panik fehl am Platze: Lange befand sich die statistische Kurve überall im Westen im Sinkflug begriffen und ging die Zahl der Tötungsdelikte stetig zurück, bevor wir erst jetzt in Sachen Gewaltkriminalität den höchsten Wert seit fünfzehn Jahren erreicht haben.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wiederum erfasst eine Tat nicht in dem Jahr ihrer Begehung, sondern wenn die Polizei den Fall abschliesst und an die Staatsanwaltschaft übergibt. Taucht eine Gewalttat in der Statistik auf, kann sie also schon mehrere Jahre alt sein. Voraussetzung ist natürlich, dass sie überhaupt der Polizei bekannt wird. Wie immer bei Statistiken gilt also auch hier: Vorsicht vor falschen Schlüssen.

Ein Zuwanderungsmoratorium, wie es die AfD fordert, bliebe wahrscheinlich ohne nennenswerten Effekt. Denn in der Statistik enthalten sind auch Tatverdächtige ohne Aufenthaltstitel, darunter Touristen und Durchreisende. Der Attentäter von München kam bekanntlich mit dem Auto über die österreichische Grenze angereist; er war in Deutschland kein Migrant und auch kein Asylbewerber.

Alewyn hatte zu zeigen versucht, dass die Angst vor der Natur, der Dunkelheit oder dem Gewitter in früheren Zeiten weitaus begründeter war als zu seiner Zeit. Ebenso dürfte die Angst vor Gewalt in den 1990er Jahren weitaus begründeter gewesen sein als heute. Probleme der Einwanderungsgesellschaft benennen und sich zugleich zu dieser bekennen – das ist die Herausforderung.


Nachtrag 17. September 2024

Die Psychologin Deliah Wagner von der Universität Chemnitz hat fünftausend Menschen zu ihrer Kriminalitätswahrnehmung befragt. Auf die Frage der WamS, wie Menschen Gewaltkriminalität einschätzen, die doch tatsächlich gestiegen ist, sagt sie: “Die Gewaltkriminalität schätzen die Menschen etwas realistischer ein. Aber auch dort sehen wir Fehlbeurteilungen. Auch in Kreisen, in denen die Gewalttaten zurückgingen, gaben Menschen an, diese seien nach ihrem Eindruck häufiger geworden.

Autor: Michael Kreutz

Orientalist und Politologe.

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