Mitteilungen aus Kilis (6)

Ein Monat geht zuende, ein neuer beginnt. Vielleicht in einem Monat wird Syrien seinen Rekordstand an Auswanderung und Ermordung erreicht haben.

In einem Café, in dem Syrer hier in der Türkei häufig verkehren, gab es zwei junge Burschen, die sich unterhielten. Der erste sagte: „Hast du mal einen getötet?“ Worauf der zweite engegnete: „Bis jetzt noch nicht.“

Der erste sagte zu ihm: „Sitz hier nicht mir zusammen, sondern geh los und töte jemanden. Dann kannst du wiederkommen und dich zu mir setzen!“

Vielleicht haben sie nur im Scherz geredet, vielleicht auch im Ernst. Es ist jedenfalls bedauerlich, welchen Zustand die Syrer erreicht haben. Gibt es vielleicht auch Menschen, die nach dem Sinn des Mordens fragen?

Ich weiss es nicht, aber die Situation in Syrien muss schnell bereinigt werden, bevor sich ein grosser Teil der Syrer in Mörder verwandelt. Nichts und niemand mehr wird vom Morden verschont. Es ist nichts als eine psychische Krankheit.

Ich bin davon überzeugt, dass die Dinge in Syrien den schlimmsten Zustand erreicht haben. Manche Leute in Syrien töten ohne besonderen Grund – sie töten nur zum Spass!

Die Syrer suchen Tag und Nacht zu überleben. Es scheint, dass die Chance zu leben Tag für Tag geringer wird.

Manche Syrer, die in die Türkei gehen, kehren ganz schnell nach Syrien zurück. Um mit allen Mitteln Geld zu machen, verkauft mancher sein Haus, oder er stiehlt, oder er entführt den Sohn von jemandem. Es gibt keine grossen Unterschiede. Es ist die Kultur des Dschungels, des Überlebens des Stärkeren.

Vielleicht machen meine Worte ja deutlich, wie unabdingbar es ist, eine schnelle und rasche Lösung zu unterstützen, bevor es zu spät ist.

Denn mit jedem Tag gibt es neue Brandherde und noch mehr Zusammenstösse und Auswanderung. Schliesslich fragt sich, welche Seite diese Syrer noch umarmen und sie empfangen kann?

In der Erwartung, dass die Welt sich ernsthaft bewegen wird, werde ich weiter das Café aufsuchen, wo ich mich nicht neben den jungen Mann setzen werde, weil ich noch nicht umstande bin, einen Menschen zu töten.

Vielleicht nicht wirklich.

Türkisch-syrische Grenze, 31.3.2013

(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

Mitteilungen aus Kilis (4)

Die Syrer sitzen in diesen Tagen vor den Fernsehschirmen. Sie fassen sich mit ihrer einen Hand an ihre leeren Bäuche und mit der anderen nach der Fernbedienung. Sie suchen nach einer Nachricht, die da lautet: Raketenabschüsse und Luftangriffe werden eingestellt.

Vielleicht gibt es nichts dringenderes, was am Horizont sich abzeichnet. Doch dass die Arabische Liga die neue Regierung als legitim und einzige Vertreterin des syrischen Volkes ist von enormer Bedeutung. Ich hoffe, dass die Europäer und Amerikaner dem Beispiel der Araber folgen werden.

Es ist die einzige Lösung, um die Opposition zu unterstützen, damit sie ein Staat wird und wir das Chaos der bewaffneten Milizen hier und dort loswerden. Vielleicht wird Assad demnächst das Töten intensivieren, um die Welt unter Druck zu setzen, damit sie sagt: er bleibt wo er ist.

Leider rückt dieses Szenario näher. Wenn die Welt sich nicht militärisch bewegt, um diesen Verbrecher zu stoppen, dann wird die Welt demnächst noch mehr Morde und Verbrechen erleben.

Hier an der türkisch-syrischen Grenze ist die illegale Einwanderung nach Europa gängig. Die Preise betragen 5.000 Euro pro Person und es besteht die Möglichkeit, sogar Menschen zu schleusen, die über keinen Reisepass verfügen. Mit jedem Tag kommen  Wellen von Syrern auf die Europäer zu.

Vielleicht gehört es zur Dialektik der Geschichte, wie es in einer historischen Quelle heisst, dass die Syrer zunächst nach Italien und Griechenland ausgewandert waren. Ihre Auswanderung geschah aufgrund der Blüte von Rom und Athen, was die grosse formale Ähnlichkeiten zwischen ihnen erklärt, ebenso wie die Tatsache, dass elf Kaiser syrischer Herkunft waren.

Heute kehrt die Geschichte wieder. Damals war der Grund für die Migration, dass die Perser viele Syrer getötet hatten – und heute genauso. Und Bashar al-Assads Wurzeln gehen auf die heutigen Perser zurück. Sie sind diejenigen, die ihn durch Fatwas von Khamenei, al-Buti und Nasrallah zum Mord befähigen.

Der syrische Schmerz ist gross. Die türkische Regierung öffnet die Tür einen Spalt weit für die Syrer, indem sie ihnen Aufenthalt gewährt. Aber was ist mit denen, auf deren Reisepässe Geldstrafen erhoben werden, weil sie ihren Aufenthalt in der Türkei überzogen haben, darunter auch ich. Auf meinem Pass sind Bussen in Höhe von rund 300 Euro angelaufen. Ich bin illegal in die Türkei zurückgekehrt – was ist mit solchen wie mir?

Der Weg ist lang, es gibt viele Schwierigkeiten und das Leben für die Syrer hier ist sehr schwierig. Noch einmal: Die Lösung besteht darin, die neue legitime Strömung des syrischen Volkes und die neue Regierung zu unterstützen. Die internationale Gemeinschaft muss uns, den syrischen Flüchtlingen, helfen.

In meiner Korrespondenz mit dem schwedischen Botschafter sagte mir dieser, dass, wenn ich keine Verwandte in Schweden hätte, es für mich keine Möglichkeit gebe, in das Land zu reisen, weil keine Flüchtlinge aufgenommen werden. Dann fügte er hinzu: Oder durch die Heirat mit einer Schwedin. Wo ist diese Frau? Gehören Aufnahme und Hilfe für syrische Flüchtlinge zu den Prioritäten der schwedischen Frauen?!

Es wäre in diesem Fall aber auch kein Problem, wenn es so wäre. Denn das syrische Gesetz erlaubt die Polygamie.

Türkisch-syrisch Grenze, 26.3.2013

(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

Syrien nach Assad (2)

Häufig macht sich eine gewisse Hilflosigkeit breit, wenn es um die Ursachen von Gewalt geht, wie derzeit in Syrien zu beobachten. Viele Kommentatoren wissen sich dann keinen anderen Rat, als die Misere auf ein verunglücktes nation building, verschuldet durch koloniale Willkür, zurückzuführen. Eine ethnisch wie konfessionell heterogene Menschenmasse, so das gängige Narrativ (hier eines von vielen Beispielen), sei in einem von fremden Mächten und aus eigennütizgen Gründen zusammengezimmerten Staatsgebilde zusammengepfercht worden, dessen Fliehkräfte nur durch die eiserne Faust eines Diktators in Schach gehalten werden.

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Mitteilungen aus Kilis (3)

Die sich überschlagenden Meldungen aus Syrien machen einem Angst: Armut, Obskurantismus, Mord, Hunger – und takfirische Organisationen. All dies lässt den syrischen Bürger nicht schlafen.

Armut: Viele Reiche oder Angehörige der Mittelschicht gibt es nicht mehr in Syrien. Alle haben sie das Land verlassen, sind verstorben, wurden umgebracht oder entführt, um Lösegeld zu erpressen. Wer von ihnen zurückgeblieben ist, hat Angst, sein Luxusauto zu benutzen.

Obskurantismus: Die meisten derer, die zu den Waffen greifen, sind von geringer Bildung. Infolgedessen tragen sie Waffen zuallerst zur Selbstverteidigung und dann als Instrument, um andere für eine Frau zu töten oder um eine Meinung zu bekämpfen oder einfach nur so.

Mord: Auf den Strassen Syriens kann man Leichen sehen, die von Hunden und Katzen gefressen werden. Man kann ein Leichenteil sehen, ohne zu ahnen, von welchem Menschen er überhaupt stammt. Am schlimmsten aber ist die Tatsache, dass Kinder, die täglich einen Mord und Leichen zu Gesicht bekommen, zusätzlich allen Arten von Missbrauch und Gewalt asugesetzt sind, und zwar seelischer und sexueller Natur.

Hunger: Es genügt, wenn Sie die Berichte der internationalen Organisationen nehmen und die Zahlen mit Fünf multiplizieren, um die wahre Statistikzu erhalten. Es ist alarmierend.

Die takfirischen Organisationen (Gemeint sind fanatische Gruppen, die anderen Muslimen den Glauben absprechen. Von takfīr = für ungläubig erklären. Anm. d. Ü.) sind bei weitem die gefährlichsten. Es gibt viele Berichte über Tötungen, Diebstahl oder Vergewaltigung im Namen der Religion. Im Krieg ist alles zulässig, islamischer Ethik braucht es nicht. Das ist die traurige Wahrheit.

Es ist schrecklich. Was in Syrien geschieht, kann nicht toleriert werden. Als Syrer kann ich nicht genau sagen, wo diese Gedanken und diese Gruppen herkommen und wie sie sich finanzieren. Oder aus welcher Richtung sie Unterstützung erhalten. Alles deutet jedoch auf Extremisten aus Saudi-Arabien und einigen Golfregionen hin. Ich wäre auch nicht von Hilfe aus anderen Gegenden überrascht, die nichts mit dem Islam zu tun haben.

Ich persönlich habe von vielen Augenzeugen gehört, dass einige dieser Elemente sich die Frau irgendeines Mannes mitsamt ihrer Kinder greifen und in die sexuelle Sklaverei führen. Einige der Ausbeuter selbst verteilen internationale Hilfe gegen sexuelle Dienste. Diese Organisationen sind die einzigen, die ihren Kämpfern faire Löhne zahlen, während einige Kämpfer der Freien Armee nicht einen einzigen Qirsch (Währungseinheit, Anm. d. Ü.) erhalten haben, obowohl sie seit mehreren Monaten ausgeharrt haben. Manche sind korrupt geworden, wie diese Gruppierungen mit ihren befremdlichen Ideologien.

Vielleicht sind die sexuellen und finanziellen Anreize der Grund für ihre so bemekenswerte und rasche Zunahme. Ich mache den Menschen keine Vorwürfe, denn die Menschen in Syrien sind keine Platoniker. Jeder hat seine Wünsche und Launen, zudem werden sie getrieben von Armut, Elend und Hunger.

Vielleicht würden sich diese Gruppen eines Tages soweit vergrössern, dass auch ich zu ihnen gehöre, wo ich doch ein Obdach nur finde, wenn ich nach Syrien zurückkehre. Wie ich es in einem Romans namens „Fluss des Wahnsinns“ gelesen habe.

Da gibt es einen Fluss, dessen Wasser jeden wahnsinnig macht, der davon trinkt. Schliesslich bleibt nur noch der König bei Verstand, während das Volk dem Wahnsinn anheimgefallen ist. Im letzten Kapitel des Romans sitzt der König um den Verstand  weinend, während er vor sich ein Glas mit Wasser aus dem Fluss des Wahnsinns setzt, bis er sich gezwungen sieht, wie die anderen wahnsinnig zu werden. So trinkt er von dem Flusswasser, vor dem es kein Entkommen gibt.

Meine Worte an meine Freunde in West- und Osteuropa, Amerika und Japan richtend, sage ich: Den Vernünftigen gehört die Stimme der Freiheit und des Gewissens.

Bitte stoppt den Wahnsinn, der in Syrien geschieht.

Türkisch-syrische Grenze, 23.3.2013

(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

Kriegstagebuch Aleppo (7)

Am Mittwoch schlugen Mörserraketen in der Nilstrasse ein. Natürlich kam das Bombardement von Seiten des Militärs und führte dazu, dass neun Personen auf der Stelle getötet wurden.

Gegen Donnerstag Abend wurden Gerüchte laut, dass das Regime Brot in einem Restaurant verkaufen wolle, sodass sich die Menschen dort über Stunden versammelten. Ich habe keine Ahnung, ob einer von ihnen Brot bekommen hat, jedenfalls hat bis neun Uhr keiner etwas erhalten.

Die Diphtherie hat etwas nachgelassen. Das Internet funktioniert im Stadtzentrum, aber die Kommunikation ist generell in vielen Stadtteilen nicht möglich. Was das Zentrum angeht, so sind hier die Landverbindungen wieder verfügbar.

Insgesamt ist die Atmosphäre nicht wie früher und die Waagschale neigt sich mehr zum Unbekannten. Viele desertieren vor dem Wehrdienst der Regierungstruppen. Es gibt nur noch Söldner im Land und wenige Rekruten. Viele erwarten deshalb seit Tagen Überraschungen.

Heute sind die Preise für … um zehn bis zwanzig Prozent gestiegen.

Die Situation ist eine absolute Tragödie. Hinzu kommt die bittere Not und Arbeitslosigkeit der Menschen, während die Kälte heranstürmt und die Brotversorgung unterbrochen ist. Die Lage ist sehr düster. Gestern gab es [viel] Bombenlärm, heute weniger. Heute ist die Lage weitgehend ruhig. Das schlimme aber ist, dass man in der Stille das schreckliche Geräusch eines Raketenabschusses hört.

In einer Woche wird Aleppo vielleicht vollständig ausser Kontrolle sein.

Aleppo, 14.12.2012

(Aus dem Arabischen von M. Kreutz)

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