Das Erstarken nationalistischer Kräfte, die durch den Wahlsieg Trumps in den USA weiteren Auftrieb erhalten haben, zerrt an der liberalen Substanz Europas, wobei es jedoch pragmatische Gründe gibt, am Nationalstaat festzuhalten.
Der britische Historiker Elie Kedourie, selbst ein Konservativer, machte in seinem Buch Nationalism (1960) kein Hehl daraus, dass Nationalismus eine unheilvolle Erscheinung der Neuzeit ist. In seiner kontinentaleuropäischen Ausprägung sah er ihn, was zunächst erstaunen mag, in der Nachfolge Immanuel Kants.
Für Kant ist die Geschichte ein unaufhörlicher Kampf. Gut und Böse, schreibt er in seiner Abhandlung Von den verschiedenen Racen der Menschen (1775), seien untrennbar miteinander vermengt und beinhalteten „die grossen Triebfedern, welche die schlafenden Kräfte der Menschheit ins Spiel setzen‟. In seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) heisst es, dass die Menschen erst im Kampf gegen „Widerwärtigkeiten‟ der von Gott in Aussicht gestellten „künftigen Herrlichkeit würdig werden sollten‟.
Kant war bereit, Gewalt in Kauf zu nehmen, wenn es darum ging, eine Selbstregierung, d.h. eine republikanische Ordnung, zu errichten. Das ist nicht unbedingt zu beanstanden, doch geht diese Auffassung mit dem Appell an eine moralische Prinzipientreue einher, wonach in letzter Konsequenz tugendhaft nur das sein kann, was einem inneren sittlichen Kampf entspringt. Kampf und Tugend bilden eine Einheit.
Die Tugend ist aber zugleich autonom, von Natur und Geschichte getrennt. Der freie Mensch beugt sich nicht der Welt, sondern er beugt diese seinem Willen. Da der Mensch die Welt nicht in ihrer wirklichen Beschaffenheit wahrnehmen kann, ist seine Wahrnehmung mit der wirklichen Beschaffenheit der Welt nicht identisch. Sie erfahren heisst, sie zu verwandeln. Die reale Aussenwelt bleibt hinter einem undurchsichtigen Schleier verborgen und macht gesichertes Wissen unmöglich. Hier stösst Kant ein Tor für weit radikalere Theorien auf.
Johann Gottlieb Fichte, ein Anhänger der Französischen Revolution, dachte Kant weiter. Für ihn gewinnt die Welt Wirklichkeit, weil sie die Schöpfung eines allumfassenden Bewusstseins ist. Daraus leitete er eine Theorie des Staates ab, die 1800 in einem Buch unter dem Titel Der geschloßne Handelsstaat propagierte, in dem Staat und Individuum organisch miteinander verbunden sind und der „Einfluß des Ausländers“ auf die Staatstätigkeit unterbunden wird. Einen Handel mit der Aussenwelt abzuschliessen hat nur die Regierung des Fichte’schen „Vernunftstaates“ das Recht.
Ähnlich dachte Friedrich Schelling, der Freiheit als inneren Zustand begriff, der nur als Gefühl des Einsseins mit dem Ganzen erlebt werde. Das ganze ist der Staat, in dem der einzelne seine Freiheit und Selbstverwirklichung findet. Der Philosoph Isaiah Berlin hat zeitlebens Rousseau als den eigentlichen Urheber dieses Denkens ausgemacht und zum Ahnherren aller neuzeitlichen Totalitarismen erklärt. Kedourie widerspricht. Zwar hatte Rousseau gemeint, dass der Mensch nur in seiner Unterordnung unter den Gemeinwillen (volonté générale) Glück oder Tugend erlangen könne, er war jedoch kein Metaphysiker und lieferte kein geschlossenes System. Dies schufen erst die Nachfolger Kants.
Auch der grosse Verteidiger der Humanität, Johann Gottfried Herder, gehört dazu. Seine Idee, dass Fortschritt im Sinne der Humanität das Ergebnis von Kampf sei („Das Leben ist also ein Kampf, die die Blume der reinen, unsterblichen Humanität eine schwer errungene Krone‟) erfolgte natürlich in aufklärerischer Absicht, besass aber einen anti-kosmopolitischem Unterton. Es war vor allem Isaiah Berlin, der bei aller Fortschrittlichkeit und Humanität in Herders Denken auch dessen problematische Aspekte sah. So diente das propagierte Eintauchen in das eigene Land, die eigene Zeit und den eigenen Ort, nur dazu, innerlich mit ihnen zu verschmelzen, um schliesslich der Natur den eigenen Willen aufzuzwingen – und zwar den deutschen Willen.
Kedouri erkannte, wie die Nachfolger Kants von der Idee des Naturrechts abrückten und umso mehr der Faszination für das Wilde und Urwüchsige, m.a.W. das von der Zivilisation Unverdorbene, erlegen waren. Der Kosmopolitismus war damit unvereinbar, weil er als nicht authentisch und künstlich galt. Die Vielfalt der Völker wurde zum Selbstzweck, sie zu erhalten als menschliche Pflicht gedeutet, um die besonderen Anlagen einer jeden Kultur zu vollen Entfaltung zu bringen. Die Vermischung der Kulturen wird zum Hindernis für den Fortschritt in der Welt, was schliesslich auch auf die Sprache bezogen wurde, die es in ihrer Eigentümlichkeit zu erhalten gelte. Fichte setzte die Existenz von Fremdwörtern in einer Sprache mit einem Untergang der Moral gleich.
Obgleich diese Denker zumindest anfänglich von der Französische Revolution begeistert waren, haben sich ihre Gedanken nicht auf deren Ideale berufen können. Waren die französischen philosophes davon ausgegangen, dass Individuen und Volksgruppen das Recht auf einen eigenen Staat hätten, glaubten die Nachfolger Kants, dass Staaten natürliche Grenzen haben, die mit den Sprachgrenzen identisch seien. Die Nation dachten sie als natürliche und organische Einheit, wo die französischen philosophes Individuen der Bevölkerung ganz einfach das Recht zugebilligt hatten, eine gemeinsame Verfassung ihrer Regierung ins Werk setzen.
Solche Strömungen wurden auch weit ausserhalb des deutschsprachigen Raumes populär. Herders Schriften verbreiteten sich auch im Osmanischen Reich und Vorstellungen von einem organischen Charakter der Nation machten sich auch dort breit. So propagierte im 19. Jahrhundert eine neue serbische Bildungselite eine Bewusstseinsgemeinschaft, die auf dem Konzept des Volkes (narod) aufbaute. Im türkischen Kontext kennen wir die Bewegung der sog. Anatolianisten (anadolucular), die, in den 1920er Jahren entstanden, sich gegen Kosmopolitismus, Kapitalismus und Marxismus richteten und Nationalbewusstsein mit einer Verherrlichung des Landlebens verbanden.
Man kann wohl sagen, dass derartige Gesellschaftstheorien fast immer antisemitisch waren, in jedem Falle aber eine Feindschaft gegenüber allem hegten, was man heute als „westlich‟ bezeichnet, also gegenüber Kommerz, Weltoffenheit, Pragmatismus und kulturelle Vermischung. Für die Anatolianisten waren Kaufleute Repräsentanten der Wurzellosigkeit und überhaupt galten ihnen Geld und Juden als die beiden Hauptfeinde der Menschheit. Kant ist daran nicht unschuldig, über dessen Wahrnehmungstheorie der Philosoph Hans Blumenberg einmal geschrieben hat: „Identität muß realisiert werden, wird zu einer Art Leistung, und dem entspricht eine Pathologie der Identität.“
Heute findet diese Einstellung ihren politischen Ausdruck vor allem in den neurechten Parteien Europas, die derzeit die nationalen Parteienlandschaften aufmischen. Die Parteiführungen mögen sich vom Antisemitismus losgesagt haben und sich davor hüten, sich rassistische Parolen allzu offen zu eigen zu machen, aber die eigene Anhängerschaft scheint davon zum Teil unbeeindruckt. Versuche der AfD, Begriffe wie „völkisch‟, „Volksgemeinschaft‟ oder „Umvolkung‟ innerhalb des politischen Diskurses wiederzubeleben, sind alarmierend, auch wenn sie bislang als gescheitert betrachtet werden können. Von rassistisches Entgleisungen distanziert sich die Parteiführung meist nur halbherzig, wobei die Distanzierung als solche von Teilen der eigenen Anhängerschaft als Beleg dafür gedeutet wird, dass eine vermeintliche Elite die Parteien zwingt, sich öffentlich nur gemäss den Vorgaben einer politischen Korrektheit zu äussern.
Vor diesem Hintergrund muss man klar feststellen, dass es keineswegs harmlos ist, wenn 62 Prozent der Sachsen der Auffassung sind, Deutschland brauche eine starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpere. Darin äussert sich keinesfalls ein bloss legitimer Protest an der Politik der Bundesregierung, sondern der Wunsch nach organischer Verschmelzung, nach Aufhebung des Individuums in Staat und Nation, wie ihn die Nachfolger Kants propagierten. Kein Wunder, dass Putins Russland so viele Anhänger in rechtskonservativen Zirkeln hat, die EU dort als künstliches Gebilde gilt und man sich für die vermeintlichen Vorzüge einer direkten Demokratie erwärmt.
Kedourie, der als konservativ gilt, ging zu recht davon aus, dass Nationalismus und Liberalismus „entgegengesetzte Prinzipien‟ sind, insofern als letzterer vom Individuum her denkt, ersterer hingegen vom Kollektiv. Zudem fehlt dem Nationalismus der Fortschrittsgedanke und triumphiert allein in seiner eigenen Staatswerdung. Dabei ist eine Ablehnung des Nationalismus nicht gleichzusetzen mit einer Ablehnung des Nationalstaats. Dessen Erhalt kann man aus ganz und gar pragmatischen Gründen verteidigen, insofern er als Verfassungsstaat am Anfang einer liberalen Gesellschaftsordnung steht. Der Philosoph Rémi Brague hat die Idee des Liberalismus einmal wie folgt auf den Punkt gebracht: Indem wir unsere eigenen Interessen verfolgen, tragen wir zum allgemeinen Wohl bei.
Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass Liberalismus keine sozialen Bindungen kenne (vgl. mein Buch Zwischen Religion und Politik, S. 163 ff.). Der Religionsphilosoph Yoram Hazony, entschiedener Befürworter eines neuen Nationalismus, hat dies gar nicht verstanden. Der Liberalismus redet keiner atomisierten Gesellschaft das Wort, sondern bemisst Institutionen wie Familie, Religion oder Nation daran, inwieweit sie das Individuum unterdrücken. Nation ist dann nicht per se gut oder schlecht, sondern nur in dem Masse gut oder schlecht, wie es die Freiheit des Individuums respektiert. Dasselbe gilt für Familie oder Religion.
Man kann diese Einsicht zwar dem Konservatismus zurechnen (jedenfalls im angelsächsischen Verständnis des Begriffes), dies aber auf keinen Fall mit dem Nationalismus vereinbaren – und zwar schon deshalb, weil Nationalismus der Idee freier, weltumspannender Märkte entgegensteht, aber auch, weil das Individuum in ihm keinen Platz hat. Gerade der angelsächsische Liberalismus, der der Nationalstaatsidee gar nicht entgegensteht, ist der Grund, warum, wie der Historiker Bernard Lewis einmal angemerkt hat, einem der Ausdruck „englischer‟ oder „amerikanischer Nationalismus‟ nicht selbstverständlich über die Lippen komme.
Hazony, der sonst recht gescheite Texte produziert, benutzt aber nicht einen falschen Begriff für einen an sich richtigen Gedanken, sondern sieht im Wahlsieg von Trump eine positiv zu beurteilende Rückkehr des Konservatismus. Nichts könnte falscher sein. Was wir im Westen erleben, ist vielmehr das Bröckeln der liberalen, in Amerika würde man sagen: konservativen, Substanz von ihren Rändern her. Dem Abscheu der Linken gegenüber dem Nationalstaat steht ein zunehmender Nationalismus der Rechten zur Seite. Die Verteidiger des Nationalstaats aus pragmatischen Gründen, wonach nämlich jener überhaupt erst das Fundament der liberalen Demokratien des Westens bildet, sollten sich darüber im Klaren sein, dass die nationalistischen Rechten nicht ihre Freunde sind.
(Geringfügig überarbeitet am 10.12.16 um 13:20.)