Entkernter Liberalismus

Von überall her dröhnt es einem entgegen: Ein neuer Liberalismus, ein neuer Freiheitsbegriff müsse her – und fast immer läuft dieser Schlachtruf auf die Forderung hinaus, die Freiheit des einzelnen ganz grundsätzlich zu beschneiden. “Verzicht” lautet der ideologische Kern dieser Forderung, der auf nicht näher definierte Weise von der Politik orchestriert werden soll.

Es ist schon richtig: Viele Einschränkungen der individuellen Freiheit sind gerechtfertigt, viele Tabus und Verbote existieren zu recht. Aber in einer liberalen Ordnung stehen sie immer unter dem Vorbehalt, dass dem einzelnen nur das verwehrt werden darf, was dem anderen schadet. Das wirft in Zeiten des Klimawandels natürlich die Frage auf, welche Handlung welche Folgen für wen auf diesem Planeten eigentlich hat und deshalb muss der Liberalismus in der Tat weitergedacht werden.

Aber dessen Kerngedanke, dass der Gesellschaft am meisten nützt, wenn dem Individuum überlassen bleibt, wie er leben und arbeiten will, bleibt richtig und bildet die Quelle für unsere Freiheit und unseren Wohlstand. Denn die individuellen Freiheiten sind nichts anderes als die Rechte des einzelnen, die der Staat garantiert und die er nur dort einschränken darf, wo diejenigen ihn dazu ermächtigen, die seine Existenz legitimieren, nämlich die Bevölkerung.

Isaiah Berlin, der wie wohl kein zweiter das Thema Freiheit philosophisch vermessen hat, hat einmal darauf hingewiesen, dass Liberale wie Locke und Mill in England und Constant und Tocqueville in Frankreich immer darauf gepocht haben, dass ein Minimum an Raum persönlicher Freiheit bestehen muss und um keinen Preis verletzt werden darf, folglich eine Grenze zwischen Privatsphäre und Obrigkeit (public authority) gezogen werden müsse. Das scheint uns heute selbstverständlich, war es aber über die meiste Zeit der Menscheitsgeschichte nicht.

Daher gibt es einen Katalog elementarer Rechte, die keine noch so demokratisch legitimierte Regierung beschneiden darf. Die liberale Gesellschaft kann nicht anders als eine pluralistische sein und Gesetze verdrängen die Tugend, die in älteren Staatsvorstellungen im absoluten Herrscher verkörpert werden sollte.

Dabei versteht sich von selbst, dass die individuelle Freiheit auch die des Wirtschaftens einschliesst. Liberalismus ist unvereinbar mit Ordnungsvorstellungen, in denen der Staat das Wirtschaften übernimmt. Dass Sozialismus (Staatswirtschaft) und liberale Demokratie einander nicht vertragen, ist empirisch belegt. Dennoch soll mehr und mehr Staaat jetzt der neue Liberalismus sein, wenn es nach dem vielstimmigen Chor derer geht, die behaupten, es sei an der Zeit, letzteren ganz grundsätzlich zu überdenken.

So behauptet der Jurist Christoph Möllers, es müsse jetzt darum gehen, “wie wir kollektives Handeln in den individuellen Rechten institutionalisieren können.” Möllers glaubt, das Programm, das er hier skizziert, liesse sich irgendwie unter den Begriffen der Freiheit und des Liberalismus rubrizieren, dabei ist sein Freiheitsbegriff schon längst entkernt zugunsten eines kollektivistischen Apriori. Das Individuum ist nur noch so frei, wie es den Willen des Kollektivs exekutiert.

Nicht umsonst ist Möllers mit dem “New Institute” verbunden (“Senior Adviser”), dem auch die Politökonomin Maja Göpel angehört, die von einem “Liberalismus 2.0” redet, der kein Liberalismus mehr ist. Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung war gleichwohl so unbedarft, ihr eine Plattform zu bieten, ohne auch nur eine einzige kritische Frage zu stellen.

In seinem Buch “Freiheitsgrade” bezweifelt Möllers, dass Marktwirtschaft (Kapitalismus) und Liberalismus zwingend zusammengehören. Damit wandelt er auf den Spuren der Ökonomin Lisa Herzog, einer Schülerin des Sozialismus-Apologeten Axel Honneth, die schon vor Jahren ein Buch publiziert hat, das nach eigenen angaben für einen “zeitgemässen Liberalismus” plädiert.

Schon der Titel “Freiheit gehört nicht nur den Reichen” suggeriert, beim Liberalismus habe es sich bislang immer um ein elitäres Projekt gehandelt. Im Buch beweist die Autorin, dass sie den Unterschied zwischen negativer und positiver Freiheit nur unzureichend durchdrungen hat, will sie beide doch durch eine “republikanische Freiheit” ersetzen, die von gesellschaftlichen Gruppen definiert und ausgehandelt werden.

So mündet auch Herzogs Plädoyer in ein kollektives Apriori und schliesslich in eine Rechtfertigung “umverteilender Besteuerung”, weil diese, so ihre Argumentation, den Menschen nichts wegnehme, was sie irgendwie verdient hätten. Dabei muss man noch nicht für den Minimalstaat und gegen staatliche soziale Absicherung eintreten, um zu erkennen, dass Unternehmertum in einer Gesellschaft sich lohnen muss, will sie in Wohlstand leben.

Unternehmertum braucht visionäre Individuen, doch die Angriffe richten sich immer unverhohlener gegen den Individualismus selbst. Sie kommen nicht nur von links, auch von rechts und auch z..B. von den Kirchen. Individualismus wird mit Vereinzelung und sozialer Kälte gleichgesetzt, wie es in einem Kommentar der “Süddeutschen” exemplarisch heisst: “Der Liberalismus in seiner aktuellen und seit Ende des Kalten Krieges dominanten Form, der Marktliberalismus, will vor allem das selbstbestimmte, kreative, atomisierte Individuum.“

Der Abscheu vor dem Markt ist ein Abscheu vor dem Individuum, das nicht länger selbstbestimmt und kreativ, sondern seine Geborgenheit im kollektiven Apriori finden soll, den der Autor des Kommentars freilich nicht so nennen, sondern mit dem Etikett eines erneuerten Liberalismus versehen will. Nestwärme ohne Selbstbestimmung und ohne Kreativität ist das Ziel, das manche tatsächlich reizvoll finden.

Ein anderer Kommentator behauptet dieser Tage in der “Zeit”, von liberaler Seite werde “heute wieder oft” einem Freiheitsbegriff das Wort geredet, der nichts als Egoismus bedeute. Zum Glück für den Kommentator hat die Redaktion der “Zeit” keine Belege für seine Behauptung verlangt, wo kämen wir da hin.

Obwohl Deutschland ein relativ liberales Land mit einer gut funktionierenden liberalen Demokratie ist, tut sich die kulturelle Elite mit dem Liberalismus schwer, den sie entweder in Bausch und Bogen verwirft oder nur in Form eines entkernten Liberalismus akzeptieren kann. Das mag historische Gründe haben: Deutschland hat in der frühen Neuzeit seine Renaissance verschlafen und die spätere Begeisterung für die Antike und die aus Frankreich vordringende Aufklärung fanden vor allem im protestantischen Pfarrhaus statt.

Wie der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer ausgeführt hat, gab es schon lange eine Bereitschaft der deutschen Schriftsteller, Armut als Schicksal zu akzeptiere, zu Kommerz und Politik auf Abstand zu gehen und Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit gegen Rhetorik und verfeinerte Kunst in Stellung zu bringen. Die moderne deutsche Literatur, so Schlaffer, ist von einem Kulturpessimismus befallen und darin lange Zeit einzigartig geblieben.

Nun, letzteres muss nicht stimmen. Kulturpessimismus findet sich auch in anderen Ländern zuhauf. Die Wahlsiege von Rechtspopulisten innerhalb und ausserhalb Europas, deren Geschäft der Kulturpessimismus ist, zeugen davon zur Genüge. Ob sie an Stärke gewinnen, wird sich zeigen. Aber wenn Staatswirtschaft und Apriori des Kollektivs der neue Liberalismus sein sollen, dann spielt das ohnehin keine Rolle mehr.

Wir müssen den Liberalismus weiterdenken, ohne ihn zu entkernen.


Nachtrag 23. September 2023

Inwiefern ein Gastbeitrag von Lisa Herzog eine regelrechte Karikatur des Neoliberalismus zeichnet, zeigt der Ökonom Stefan Kolev in der FAZ: “Diese Karikatur ist ausgesprochen erstaunlich, weil die im Beitrag aufgeführten liberalen Ökonomen Friedrich August von Hayek, Ludwig Erhard und Milton Friedman bei allen Unterschieden vor allem eins gemeinsam hatten: das Denken in unterschiedlich funktionierenden Ordnungen.” Die Warnung vor einem “Marktimperialismus” wirkt für Kolev gewissermassen aus der Zeit gefallen.

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