Der Nahe Osten erlebt eine beispiellose Umwälzung, seitdem Israel nach dem Massaker vom 7. Oktober die Machtbalance zu seinen Gunsten verschoben, die Hamas zerschlagen und die allmächtige Hisbollah in die Knie gezwungen hat. Das iranische Mullah-Regime wird zum grossen Verlierer, da stürzt auch noch Syriens Assad und werden die jemenitischen Houthis zurückgedrängt. Während Russland aus Syrien abzieht, zeigt die Türkei unter Erdogan ihr wahres Gesicht und besetzt einen Teil des Nachbarlandes. Das alles kann vermeintliche Nahost-Experten nicht erschüttern.
Obwohl die erheblich geschwächte, kaum noch haandlungsfähige Hisbollah über Jahrzehnte die Souveränität des Libanon untergraben und mehrfach Israel angegriffen hat, glaubt Birgit Schäbler, eine Erfurter Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte Westasiens, an eine Zukunft der Hisbollah, der sie „durchaus staatstragende Tendenzen“ bescheinigt. Den Iran – wohlgemerkt, in seiner jetzigen Verfasstheit als Theokratie – sieht sie als Teil einer von Stabilität geprägten Ordnung und appelliert an Westen, das Regime nicht als Paria zu behandeln.
Genausogut könnte man sog. Reichsbürger oder völkische Siedler in der Lüneburger Heide als Bestandteil einer stabilen Rechtsordnung in Deutschland vorschlagen – Schäblers Thesen irrational zu nennen, wäre noch untertrieben. Die USA, fordert sie, sollten aufhören, den Sturz des Mullah-Regimes anzustreben, womit sie zeigt, dass sie keinen Kontakt zur iranischen Community in Deutschland hat, die in ihrer überwältigenden Mehrheit nichts sehnlicher wünscht, als dass Iran ein normales Land wird anstatt weiter von einer Kaste von Klerikern unterdrückt zu werden. Schäbler glaubt an das Reformisten-Märchen, das seit vielen Jahren von der Regimelobby propagiert wird.
Ihre Milde mit den zerstörerischen Kräften des Nahen Ostens kompensiert sie mit einer umso härteren Einstellung gegenüber Israel: Diesem wirft Schäbler vor, von „rechtsextremen Expansionsgelüsten“ in Gaza und der Westbank getrieben zu sein, ohne dafür einen Beleg zu nennen, während es gleichzeitig Ziele in Syrien bombardiere. Letzteres stimmt zweifelsohne, Schäbler lässt jedoch unerwähnt, um welche Ziele es sich handelt, nämlich militärische Einrichtungen sowie vermutete Chemiewaffen. Wie kann man so etwas unerwähnt lassen? Hierwird den falschen Eindruck erweckt, Israel sei der Aggressor und die einzige oder wesentliche Gefahr für den Frieden.
Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Einer der Gründe, warum Assad sich nicht mehr an der Macht halten konnte, ist die Tatache, dass einer der Hauptsponsoren des Regimes, die Islamische Republik und ihr Stellvertreter Hisbollah, massgeblich geschwächt wurden – und zwar durch Israel (ein weiterer Grund ist, dass Russland, dessen Kräfte in der Ukraine gebunden sind, ebenfalls nicht zu Hilfe eilen konnte). Auch versteht Schäbler nicht, dass religiöse Motive die Aussenpolitik der Islamischen Republik massgeblich bestimmen. Nur deshalb kann sie dem Trugschluss verfallen, das iranische Regime befinde sich in “ideologischer, nicht religiös-antijudaistischer Gegnerschaft” zu Israel.
Die ganze, rundum falsche Analyse mündet in die wohlfeile Forderung, der Westen möge sich aus Syrien heraushalten. Die mögliche Folge, dass andere Mächte umso stärker mitmischen (die Türkei haben wir bereits erwähnt), ist ihr wohl nicht klar. Leider ist dieses Denken, das hier zum Ausdruck kommt, Mainstream an den geisteswissenschaftlichen Fachbereichen, die sich mit dem Nahen Osten beschäftigen. Hier liessen sich weitere Beispiele der jüngeren Zeit nennen, doch wollen wir uns auf jemanden beschränken, der aus einer ganz anderen Forschungsrichtung kommt, nämlich den Holocaust-Forscher Enzo Traverso.
Israelische Truppen in Gaza = Besatzung. Israelische Truppen nicht in Gaza = Auch Besatzung.
Traverso glaubt, das Massaker der Hamas vom 7. Okrober 2023 sei „in erster Linie ein Ergebnis der Besatzung“ und richte sich gegen Israelis als Bürger einer Okkupationsmacht und nicht als Juden. Daran ist immerhin soviel richtig, als auch Nichtjuden Opfer des Massakers wurden. Doch von welcher Besatzung spricht Traverso? Israel hat sich im September 2005 komplett aus dem Gazastreifen zurückgezogen, einige Monate danach hat die Hamas das Ruder übernommen. Noch Jahre später stellte die Hamas in Person ihres Sprechers Zahar klar, der Gazastreifen sei nun „frei von Besatzung.“
Israelische Truppen in Gaza = Besatzung. Israelische Truppen nicht in Gaza = Auch Besatzung. Kann Israel irgendetwas tun, ohne dafür gescholten und verurteilt zu werden? Offenbar nicht. Denn Traverso glaubt – hierin einer Meinung mit Hamas, Hisbollah & Co –, dass der Zionismus in seiner heutigen Form ein „kolonialer Nationalismus“ und Nichtjuden in Israel keine vollwertigen Staatsbürger seien. Selbst wenn das wahr wäre, wäre es doch irrelevant, denn weder der Hamas noch der Hisbollah geht es um eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Nichtjuden. Für Hamas und Hisbollah ist ganz Israel besetztes Land. Israel kann überhaupt nichts tun, um mit diesen Gruppierungen und ihren Sponsoren in Teheran Frieden zu machen.
Traverso kann sich auch nicht vorstellen, dass man ohne Rückgriff auf den Holocaust mit Israel solidarisch sein kann. Allein die Tatsache, dass niemand verdient, was die Hamas 1200 Menschen angetan hat, sollte Grund genug sein, sich mit Israel zu solidarisieren, so wie man sich mit jedem anderen Land solidarisieren müsste, das derartiges widerfahren wäre. Der Gedanke freilich ist Traverso vollkommen fremd. Wer sich mit Israel solidarisiert, scheint das für ihn nur aus geschichtlichen Lehren heraus tun zu können, die nicht auf die Gegenwart übertragbar sind.
Mit der ganzen Autorität des Holocaust-Forschers wendet Traverso jedes Argument gegen die Hamas in eines gegen Israel: Es sei Israel, dass anderen Menschen ihre Lebensbedingungen raubt, einen Genozid begehe, die Elite einer anderen Nation zerstöre, den Holocaust instrumentalisiere und am Antisemitismus in der arabischen Welt eine Mitschuld trage. Noch selten hat eine Koryphäe so schnell alle akademische Glaubwürdigkeit über Bord geworfen wie Enzo Traverso in einem einzigen Interview.
Es hat sich also nichts geändert im akademischen Zirkel derer, die sich berufen fühlen, aktuelle Ereignisse im Nahen Osten zu deuten. Israel bleibt ihnen der ewige Störenfried, das Dauer-Ärgernis, der Stachel im Fleisch. Die extremistischen Kräfte nicht-jüdischer Provenienz sind ihnen keine Silbe wert oder werden als potentielle Kräfte des Fortschritts und der Mässigung gar mit besonderer Nachsicht bedacht. Eine Künstliche Intelligenz könnte die Urheber solcher Beiträge schon heute ersetzen, d.h. sie muss noch nicht einmal intelligent sein.