Demokratie und Lagerdenken

Wer sich für Politik interessiert, eine politische Meinung hat, politisch denkt, wird sich einem Lager zuordnen. Überwindung des Lagerdenkens kann also realistischerweise nicht heissen, sich keinem Lager zuzuordnen. Vielmehr heisst es, nicht immer reflexartig das eigene Lager zu verteidigen, ohne dessen Argumente sorgfältig zu prüfen.

Deutschland in der Phase seiner Deindustrialisierung – Zeche Zollverein, Essen. (Foto: Michaael Kreutz)

Wenn man sich also dem bürgerlichen Lager zuordnet und beider Bundestagswahl eine schwarz-gelbe Kolation präferiert, dann kommt man aktuell dennoch nicht hin zu erkennen, dass die CDU unter Friedrich Merz ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem hat. Im Klartext: Merz ist inkompetent und ein Opportunist. Beim Fernsehduell der Kanzlerkandidaten hat er gegen den amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in den zentralen Punkten Migration und Wirtschaft versagt.

Der Jurist Merz folgt der Argumentation eines Nichtjuristen

So hat Merz eine falsche Zahl genannt, als er Scholz vorwarf, in dessen drei Jahren seiner Amtszeit seien „weit über zwei Millionen irreguläre Migranten nach Deutschland“ gekommen. Die tatsächlichen Zahlen liegen weit darunter. Schlimmer wiegt jedoch, dass Merz glaubt, durch eine Reform des deutschen Asylrechts Rückweisungen an der deutschen Grenze vornehmen zu können, als ob es kein europäisches Recht gäbe.

Das europäische Asylrecht mag reformbedürftig sein, darüber kann man denken, was man will. Aber der Jurist Merz folgt hier der Argumentation eines Fachfrremden, nämlich des Historikers Heinrich August Winkler, der im „Spiegel“ Humbug über das Asylrecht verbreitet. Ein Jurist lässt sich von einem Historiker einen juristischen Gegenstand erläutern – das ist so, als wenn ein Orientalist sich von einem Mediziner den Nahen Osten erklären lässt.

Tatsächlich lässt die sogenannte Dublin-III-Regelung Spielraum in der Interpretation, was die Möglichkeit anbetrifft, Asylsuchende an der Grenze zurückzuweisen. Jedenfalls stellt dies ein Papier des Deutschen Bundestags (Punkt 2.1) so fest. Allerdings sind Personenkontrollen an den Binnengrenzen nur vorübergehend mit dem Schengener Grenzkodex vereinbar. Auch hier setzt EU-Recht deutsches Recht ausser Kraft. Merz wird also im nationalen Alleingang nicht viel bewirken können.

Weitaus schwerer wiegt aber der wirtschaftspolitische Ansatz, den Merz skizziert. Zwar ist der Gedanke grundsätzlich richtig, dass Bürokratieabbau, schnellere Genehmigungsverfahren und eine reformierte Energiepolitik zur Konjunkturbelegung führen können und damit zu Mehreinnahmen bei Steuern. Merz will das aber in sehr kurzer Zeit schaffen und damit ein Steueraufkommen generieren, das geeignet ist, auch noch die Ertüchtigung der Bundeswehr und der Ukraine mitzufinanzieren, ohne deswegen die Schuldenbremse reformieren zu müssen.

Dabei sagen selbst Ökonomen – und keineswegs nur linke –, dass die Schuldenbremse aktuell viel zu starr ist. Der Sachverständigenrat Wirtschaft schlägt vor, bei der Schuldenaufnahme den „konjunkturell notwendigen Finanzbedarf“ besser abzubilden. Auch das arbeitgebernahe IW Köln plädiert für eine Reform der Schuldenbremse. Das Kiel Institut für Weltwirtschaft sagt zwar ganz klar, dass die Schuldenbremse eine gute Sache ist, um zu verhindern, dass ein Land auf Pump lebt.

Fauler Budenzauber statt seriöse Wirtschaftspolitik

Angesichts der Herausforderungen von Bundeswehrertüchtigung und Ukrainehilfe jedoch führe kein Weg um eine Lockerung der Schuldenbremse herum. Deutschland hat einen erheblichen Nachholbedarf in Sachen Verteidigung und dieser Nachholbedarf kommt ausgerechnet in Zeiten von schwacher Konjunktur, Inflation und Energiewende.

Dies zu bewältigen, dafür gibt es nur, so das Kiel Institut, drei Möglichkeiten: durch Steuererhöhungen, Ausgabenkürzungen oder Kreditaufnahme, wobei letztere aus guten Gründen vorzuziehen sei. Wenn Merz Wirtschaftsaufschwung, Bundeswehrfinanzierung und Ukrainehilfe in Windeseile nur durch Konjunkturbelebung stemmen will, dann ist das fauler Budenzauber.

Sein Rivale Scholz hat recht, wenn er sagt, was nach einem solchen Versprechen passieren wird: Es wird eine erhebliche Finanzierungslücke im Haushalt geben und um diese zu schliessen, wird Merz gezwungen sein, an anderer Stelle zu kürzen. Was er dann kürzen wird, sagt Merz nicht, der an seinen Hokuspokus glaubt, dass man nur ein paar Schräubchen am Regierungsapparat drehen müsse, damit der Wirtschaftsmotor wieder auf vollen Touren läuft.

Die SPD kann man mögen oder nicht, aber bei ihr weiss man wenigstens, wofür sie steht. Anhänger von CDU und FDP sollten einmal darüber nachdenken. Die FDP wird übrigens in der kommenden Regierung keine Rolle spielen, selbst wenn ihr der EInzug in den Bundestag gelingen sollte. Die Partei mag die rationalste in Bezug auf Wirtschaft, Migration und Verteidigung sein – aber ihr Chef Lindner hat sich nun einmal verzockt, als er ihren Rauswurf aus der Ampel-Koalition provozierte.

Was also werden wir bekommen? Wahrscheinlich wird der nächste Bundeskanzler Friedrich Merz heissen. Die CDU wird dann entweder eine Koalition mit den Grünen oder mit der SPD eingehen. Wer sich dem bürgerlichen Lager zuordnet, wird Schwarz-Rot als das kleinere Übel bevorzugen. Dabei wird sich die SPD als der stabilere Partner entpuppen, während die CDU zu einem Slalomkurs zwischen Wunschdenken und Realität gezwungen sein wird.


Nachtrag 25. Februar 2025

Nun hat Schwarz-Rot gewonnen, schon geht der prophezeite Slalomkurs der CDU los: Deren Chef und kommender Bundeskanzler Friedrich Merz ist erst gegen eine Lockerung der Schuldenbremse, dann wieder schliesst er sie nicht aus, dann wieder doch, dann wieder nicht – dabei hat sich die neue Regierung noch nicht einmal formiert. Auch bestätigt sich, dass die SPD besser aufgestellt ist.

Nachtrag 4. März 2025

Ob es um Migrationspolitik geht oder um die Schuldenbremse: Gross sei „das Erstaunen angesichts der wechselhaften Signale, die er in jüngster Zeit sendet“ heisst es in einem Kommentar der „Welt“ über Friedrich Merz.

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