Putins Krieg in Europa

Viele sind es ja nicht mehr, die hierzulande noch Verständnis für Putin haben oder zumindest teilweise seiner Argumentation etwas abgewinnen können. Auf Twitter gibt es ein paar Trolle, die behaupten, vermeintlichen westlichen Falschbehauptungen Fakten entgegenzusetzen und schaut man sich unter den etablierten Medien in Deutschland um, muss sehr weit nach links oder nach rechts gehen, um fündig zu werden. Dann landet man bei der linken “Jungen Welt” oder der neurechten “Sezession”.

Die Dämonisierung der Ukraine als “Bandera-Staat”

Unter der Ãœberschrift “Gegen den Bandera-Staat” wird beispielsweise die Absurdität verbreitet, die Ukraine sei auf dem Weg in einen faschistischen Staat. Das entspricht ganz der Rhetorik des russischen Präsidenten Putin, die Ukraine entnazifizieren zu wollen. Mit “Bandera” ist der ukranische NS-Kollaborateur Stepan Bandera gemeint und tatsächlich hat die Ukraine ein Problem mit Neonazis und Nationalisten, deren Netzwerke bis in die Armee und die Freiwilligenregimenter hineinreichen.

Quelle: https://twitter.com/mfa_russia/status/1497269427154440193

Das rechtfertigt freilich weder eine Invasion der Ukraine noch dessen Schmähung als “Bandera-Staat”, zumal die Ukraine nach dem Freiheitsindex von “Freedom House” als immerhin “partly free” gilt, während Russland als “not free” eingestuft wird. Die Ukraine hat Fortschritte Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gemacht, es ist ein Land im Ãœbergang, kein “Bandera-Staat” oder gar eine “Neonazi-Junta”, wie das staatliche russische Nachrichtenportal “Sputnik” die ukrainische Regierung bezeichnet.

Der Thinktank “Wilson Center” erkennt in jüngerer Zeit zwar eine Balance zwischen negativen und positiven Trends in der Ukraine in Bezug auf Demokratie, bescheinigt dem Land aber, seit dem Ende der Sowjetunion Enormes geleistet zu haben. Die grösste Hürde für die weitere demokratische Entwicklung des Landes sieht das “Wilson Center” in Russland und dessen Krieg, der 2014 mit der Annexion der Krim begann. Putin und seine Apologeten vertauschen also Ursache und Wirkung.

Auch die weitere Annäherung an die EU hätte den Demokratisierungsprozess vorantreiben sollen und natürlich müsste und würde die EU darauf drängen, vor einer Mitgliedschaft rechtsextreme und von Neonazis durchsetze Freiwilligenregimenter wie das Asow-Regiment aufzulösen. Dass Putin sich zum Helden gegen den Nationalsozialismus stilisiert, ist gleichwohl ein Witz: Die Freiwilligenregimenter, von denen es laut “Belltower” etwa achtzig gibt, sind nämlich allesamt erst im Zuge der russischen Annexion der Krim entstanden.

Herrschen Neonazis in Kiew?

Bei den ukrainischen Wahlen von 2019 soll die “Einheitsfront” aller rechtsradikalen Gruppieren übrigens gerade einmal 2,15 Prozent erhalten haben. Michael Colborne, ein kanadischer Journalist, der über rechtsextreme Bewegungen in der Ukraine recherchiert hat, betont im Interview mit “Belltower News”, dass das rechtsextreme Asow-Regiment zwar nicht zu unterschätzen ist, aber auch keinen Anlass gibt, der russischen Regierungspropaganda auf den Leim zu gehen. Von einer “Neonazi-Regierung” in Kiew und deinem “Völkermord” im Donbass zu sprechen, nennt er “fast schon komische Ãœbertreibungen” und “lächerliche Anschuldigungen, die nicht haltbar sind.”

In der Tat. Wenn im Donbass, wie Putin allen Ernstes behauptet, ein Völkermord an “Millionen” Russen stattfände, hätte die Welt schon längst davon erfahren. Trotzdem mag es Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine geben und Putin-Apologeten werden nicht müde zu behaupten, dass Russland sich angeblich seit acht Jahren bemühe, die Ukraine dazu zu bringen, die Region zu befrieden. Wie verhält es sich damit?

Tatsächlich werden auch hier Tatsachen auf den Kopf gestellt. Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine gibt es tatsächlich in Gebieten unter ukranischer Kontrolle, aber vor allem in den selbsternannten prorussischen Volksrepubliken Donezk und Luhansk, sowie auf der russisch besetzten Krim, wie “Human Rights Watch” resümiert. Zu den Menschenrechtsverletzungen gehört übrigens die Abschaffung der Meinungsfreiheit, sodass Kritiker Russlands mit Festnahme und Deportation rechnen müssen.

Eine selektive Faktenwahl liefert der deutsche Dienst des russischen Sender RT. Dort wird in einem Beitrag eine Reihe von Kriegsverbrechen der ukrainischen Seite an der russischen Minderheit im eigenen Land aufgelistet. Ob die Angaben korrekt sind, lässt sich auf die Schnelle nicht überprüfen. Allerdings handelt es sich dabei ganz überwiegend um Ereignisse im Zuge der russischen Annexion der Krim. Selbst wenn darunter Kriegsverbrechen von ukrainischer Seite sein sollten, bleibt Putin doch der Aggressor und ist seine Regierung die letzte auf der Welt, die ein Recht hat, die Ukraine zu kritisieren.

Auch die Behauptung von RT, jedes einzelne aufgezählte Vergehen erfülle den Tatbestand des Genozids, ist absurd. Ich bin kein Völkerrechtler, aber das Völkerstrafgesetzbuch, das RT selbst zitiert, stellt klar, dass Menschenrechtsverletzungen erst dann als Genozid zu werten sind, wenn sie in der Absicht geschehen, “eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören”. RT müsste also erst einmal Belege dafür erbringen, dass eine solche Absicht auf ukrainischer Seite allgemein handlungsleitend war.

Ein halluzinierter Genozid

Bei RIA Novosti übrigens, einer staatlichen russischen Nachrichtenagentur, werden Putins “Millionen”, die innerhalb von acht Jahren im Donbass ermordet worden sein sollen, zu “Tausenden” geschrumpft. Vielleicht sollten sich die russischen Propagandaproduzenten erst einmal untereinander absprechen, bevor sie irgendwelche Zahlen in die Öffentlichkeit streuen. Oder Putin scheint es einfach mit den Nullen nicht zu haben, aber natürlich weiss er, dass es immer Menschen geben wird, die selbst den gröbsten Unsinn schlucken.

Was nun die angebliche NATO-Aggression anbetrifft, die linke und rechte Putin-Apologeten ins Spiel bringen, so wird auch hier umgekehrt ein Schuh daraus: Die NATO-Mitgliedschaft wurde von einer Reihe ehemaliger Ostblockstaaten angestrebt und gewährt, aber eben nicht im Falle der Ukraine. Sie aufzunehmen war im Gespräch, mehr aber auch nicht. Putin und seine westlichen Apologeten bringen an dieser Stelle gerne Jugoslawien ins Spiel, das 1999 Opfer einer NATO-Aggression gewesen sein soll. Tatsächlich hat Russland sich damals quergestellt, als es darum ging, die ethnischen Säuberungen durch serbische Milizen zu beenden.

Ohnehin hatten NATO und Russische Föderation mit dem Ende der Sowjetunion ihre Beziehung auf eine freundschaftliche Grundlage gestellt und 1997 in der NATO-Russland-Grundakte neu definiert. Darin heisst es: “Die NATO hat eine historische Umwandlung in Gang gesetzt – ein Prozess, der fortgesetzt wird. 1991 änderte das Bündnis seine strategische Doktrin, um dem neuen Sicherheitsumfeld in Europa Rechnung zu tragen. Im Einklang damit hat die NATO ihre konventionellen und nuklearen Streitkräfte drastisch reduziert und setzt deren Anpassung fort.

Die Grundakte wird durch Putins Überfall auf die Ukraine geschwächt und vielleicht bald Makulatur. Derweil droht das Putin-Regime Finnland mit Krieg, falls es sich der NATO anschliessen sollte, was abermals eine Vertauschung von Ursache und Wirkung ist, lässt doch erst die Angst vor dem Krieg Finnland die Nähe zur NATO suchen. Aber die Einschüchterung zeigt Wirkung, von einem NATO-Beitritt ist keine Rede mehr. Nicht-NATO-Mitglieder in der russischen Peripherie müssen nun mit der Kriegsangst leben.

Was blüht Europa?

Das Wort von der Finnlandisierung der Ukraine macht die Runde und damit verbindet sich nichts Gutes. Es bedeutet, sich jeglicher Kritik gegenüber Russland zu enthalten und dafür auf unbestimmte Zeit nicht behelligt zu werden. Wie die finnisch-estnische Schriftstellerin Sogi Oksanen erläutert, meint es letztlich die “Unterwerfung unter den Willen eines starken Nachbarlandes” und betrifft keineswegs nur die Aussenpolitik, sondern auch die Verteidigung, die Wirtschaft, die Medien, Kunst und Wissenschaft. 

Genau das blüht auch Europa und der Europäischen Union, die von Putins Sprecherin Maria Zakharova nur als “euro-atlantisches Regime” verhöhnt wird. Das Putin-Regime in die Schranken zu weisen, ist offenbar schwieriger als gedacht. Die Ukraine mit längst überfälligen Defensivwaffen auszurüsten, ist noch die leichteste Ãœbung. Aber bis Russland den Ausschluss vom internationalen Zahlungssystem SWIFT zu spüren bekommt, braucht es seine Zeit und hätte für Deutschland Nachteile in der Energieversorgung. Die Schweiz tut sich noch schwerer damit, die russischen Finanzströme trockenzulegen.

Der bulgarischstämmige Schriftsteller Ilija Trojanow erinnert in der “Frankfurter Rundschau” daran, dass Putin und sein Machtapparat, beide geprägt “von der pathologischen Unkultur des KGB”, ein imperiales Projekt verfolgen: “Imperialismus ist Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und ein Verbrecher hat kein Mitspracherecht bei der Zukunftsgestaltung seiner Opfer! Zumal diese weiterhin an den Spätfolgen der Okkupation leiden. Die ökologischen Verheerungen etwa, die einseitige Entwicklung der Volkswirtschaften, die Zerstörung von Kreativität, Fantasie und kritischem Denken.”

Europa darf sich von einem autoritären Herrscher und dessen Macht- und Desinformationsapparat weder einschüchtern noch erpressen lassen. Unsere freiheitlichen Werte sind nicht verhandelbar, unsere Gesellschaftsordnung muss allen Versuchen widerstehen, sie zu schwächen. Dazu gehört auch, dass wir bereitwillig ukrainische Flüchtlinge aufnehmen. Putin darf nicht gewinnen.


Nachtrag 27. Februar 2022

Eine Meldung aus der “Welt” vom 2. April 2008: “Bundeskanzlerin Angela Merkel sperrt sich gegen eine rasche Ost-Erweiterung der Nato um Georgien und die Ukraine. Dafür sei es zu früh. Merkel geht damit beim Nato-Gipfel auf Gegenkurs zu US-Präsident George W. Bush. ” – Es sind genau die beiden Länder, die Putin später angreifen sollte.

Putins Freunde im Westen – von rechts bis links – müssen jetzt Kreide fressen. “Politico” zeigt, wer bis zuletzt mit dem Autokraten in Moskau gekungelt hat.

Der amerikanische Sicherheitsexperte Nikolas K. Gvosdev erläutert in einem Beitrag für “Russia Matters”, was die Ukraine für Putin bedeutet: “Ukraine’s strategic real estate (…) allows Russia a pathway to project power into the heart of Europe and the greater Middle East (…) . Ukraine also serves an important role in validating Putin’s belief in a pan-Russian/Orthodox civilization that is distinct from (although related to) European/Western culture.”

Bei der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz im Rahmen einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages zum Anlass des Krieges um die Ukraine fiel auf, dass allein die Abgeordneten der Linkspartei und der AfD fast nie zustimmend klatschten, selbst dann nicht, als Scholz am Ende seiner Rede mit Putin hart ins Gericht ging und davon sprach, eine freies und gerechtes Europa verteidigen zu wollen. AfD und Linkspartei sind einfach nur jämmerlich.

“Dieser Krieg ist kein Krieg der Menschen in Russland. Dieser Krieg ist Putins Krieg”, stellt Aussenministerin Annalena Baerbock in der Sondersitzung klar. AfD-Weidel wiederum spricht vom Völkerrechtsbruch und Angriffskrieg Putins, um dann doch nur dessen Propaganda abzuspulen und dem Westen die eigentliche Schuld zuzuweisen. Erstaunlich: Die Vorsitzende der Linksfraktion, Amira Mohamed Ali, räumt nicht nur ein, Putin falsch eingeschätzt zu haben, sondern enthält sich auch der Schuldzuweisungen an den Westen.

Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck in derselben Sondersitzung: “Es ist die Provokation der Freiheit, die Putin und die Seinen nicht aushalten!” Witzig: AfD-Chef Timo Chrupalla inszeniert sich als Vertreter einer grossen Friedenspartei, fordert gegenseitigen Respekt mit Russland und ruft zur Deeskalation auf.

https://twitter.com/ischinger/status/1497958086346256388

Nachtrag 7. März 2022

Ein Beitrag auf RFEL von 2008 gibt die Rede des damaligen russischen Präsidenten Dmitry Medvedev wieder, in der dieser vor dem Krieg gegen Georgien dessen pro-westlichen Regierungschef Saakashwili beschuldigte, einen Krieg vorzubereiten sowie einen Genozid an ethnischen Minderheiten zu verüben! Diese Behauptung war ebenso eine dreiste Lüge wie heute die Behauptung von Putin, in der Ukraine finde ein Genozid an Millionen Russen statt.

Nachtrag 13. März 2022

In der “taz” stellt Jan Schroeder klar: “Die geostrategischen Interessen der russischen Regierung sind eindeutig: Die Annäherung der Ukraine an den Westen soll verhindert werden. Mit ‘berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands’, wie manche behaupten, hat das nichts zu tun.” Schroeder erinnert daran, dass es Lenin war, der die erste staatliche Eigenständigkeit der Ukraine ermöglichte, weswegen ihn Putin zum historischen Hauptfeind erklärt hat.

Nachtrag 13. April 2022

Ein sehr gut recherchierte Beitrag auf “The Bulwark” widerlegt die Behauptungen linker wie rechter Putin-Versteher über den Krieg gegen die Ukraine, vor allem diejenige, dass das osteuropäische Land einer amerikanischen Marionettenregierung unterstehe, die mit ukrainischen Neonazis zusammenarbeite, wodurch die russische Regierung gezwungen sei, die russische Minderheit zu schützen: “In any case, the Kremlin’s claim that the protection of those civilians is its casus belli does not stand up even to rudimentary scrutiny. While the civilian toll from warfare in the Donbas was fairly high in 2014-15, with over 3,000 dead, these numbers dropped dramatically after the 2015 Minsk ceasefire agreement … . These figures can hardly justify Putin’s massive war, which has left untold thousands dead and forced millions to flee their homes.

Nachtrag 9. Oktober 2022

Dass der Osten der Ukraine prorussisch sei, wie der bekannte Twitterer Elon Musk kürzlich verbreitete, ist ein Mythos, wie ein Beitrag von Denis Trubetskoy auf n-tv deutlich macht: “Viele prominente Vertreter der Partei der Regionen, die früher als russlandfreundlich galten, haben ihre Meinung schon 2014 verändert. … Lediglich 24 Prozent der ethnischen Russen sind bereit, Territorien für Frieden zu opfern.

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