In Deutschland fangen gesellschaftliche Debatten nach zwanzig Jahren wieder bei Null an. Aktuell sieht man das am Fall der Ausschreitungen, wie sie zum Jahreswechsel in Berlin stattgefunden haben. Der ausserordentlich hohe Anteil von jungen Leuten mit Migrationshintergrund ist bemerkenswert. Was nun?
Dass es sich überwiegend um eine bestimmte Gruppe von Migranten handelt, nämlich mit muslimischem Hintergrund, bleibt meist unausgesprochen. Das ist insofern verständlich, als keine Gruppe stigmatisiert werden soll. Allzu leicht könnte sie Angriffsziel von anderen Gruppen werden, z.B. Neonazis. Auch wäre es unfair, dass immer nur diejenigen Personen mit der muslimischen Gemeinschaft in Verbindung gebracht werden, die sich kriminell verhalten.
In Deutschland arbeiten viele Menschen mit muslimischen Migrationshintergrund in Krankenhäusern und Schulen, bei den Sicherheitsbehörden, in Fabriken und Universitäten. Sie tauchen nie in den Nachrichten auf und haben kaum eine Chance, ein besseres Bild vom Islam zu vermitteln. Das wollen wir nicht vergessen. Aber es sollte kein Tabu sein, über einen Teil der selbstverschuldeten Probleme zu sprechen, der in einem Teil der muslimischen Gemeinschaft nur einmal der Fall ist.
Lassen wir den Sozialwissenschaftler Ahmet Toprak von der FH Dortmund zu Wort kommen: Toprak hat zahlreiche Studien über die Erziehung und Werte muslimischer Familien in Deutschland durchgeführt und dabei festgestellt, dass vor allem den Jungen häufig sehr früh vermittelt wird, für den Schutz der einzelnen Familienmitglieder zuständig zu sein und nach aussen ein geschlossenes Bild abzugeben. Das ist das männliche Ideal, das in vielen muslimischen Familien vermittelt wird.*
In Deutschland ist das noch stärker ausgeprägt als im Herkunftsland, weil hier das soziale Umfeld ein anderes ist und hier eher als Bedrohung für die Familie empfunden wird. Daraus resultiert, so dass die Eltern konservativ-autoritärer Familien “ihren Söhnen mehr Freiheit [gewähren] und ihnen mehr Aggressivität [erlauben], während sie von den Töchtern Abhängigkeit und Ergebenheit erwarten‟, so Toprak.
Die Moscheen übernehmen auf Wunsch der Eltern teilweise oder ganz die Erziehung der Kinder, die es dort wiederum mit einem eher autoritären Weltbild zu tun haben. Das Männlichkeitsbild wird dadurch gefördert, so Topraks Beobachtung, dass ein Junge lernt, dominant und selbstbewusst aufzutreten: “Dies kann er u. a. unter Beweis stellen, indem er seine Position selbstbewusst verteidigt und auf Meinungen, die von aussen an ihn herangetragen werden, keine Rücksicht nimmt.‟
Ist es so schwer vorstellbar, dass derlei Erziehungsideale bei den Ausschreitungen in Berlin eine Rolle gespielt haben könnten? Toprak macht Vorschläge, was die deutsche Gesellschaft gegen solcherlei Autoritarismus nicht weniger muslimischer Familien tun kann, doch werden sie hierzulande breit diskutiert? Stattdessen erklärt (z.B. hier oder hier) man Armut und Perspektivlosigkeit zur Ursache, redet von “Jugendgewalt” und bildet sich ein, mit dem erleichterten Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit werde alles besser.
So fängt eine alte Debatte wieder bei Null an.
* Ahmet Toprak, 2012, Unsere Ehre ist uns heilig: Muslimische Familien in Deutschland, Freiburg, Basel, Wien: Herder, S. 65, 67, 90, 121.
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Weitere Beiträge zum Thema:
- Europas Freiheit, 4. August 2010.
- Proaktive Teilhabeförderung, 15. Februar 2017.
- Politischer Islam (3), 25. November 2020.
- Soziale Kontrolle, 28. Dezember 2021.
Nachtrag 15. Januar 2023
Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor schreibt in ihrem 2010 erschienenen Buch Muslimisch – Weiblich – Deutsch über ihre Erfahrungen mit muslimischen Familien in Deutschland: „Die unterschiedlichen Rollen der Geschlechter werden in manchen Elternhäusern mit der Muttermilch aufgesogen. (…) Und manchmal scheint es, als würde das machohafte Verhalten der Jungen von den Eltern geradezu gefördert, als Rüstzeug für das künftige Leben.“ (Ebd., S. 63.)
Nachtrag 1. Februar 2023
Unter dem Titel “Warum asiatische Kinder so erfolgreich sind” schreibt der ehemalige Gymnasiallehrer Rainer Werner auf Cicero.de, dass asiatische Einwanderer in westlichen Ländern deshalb überdurchschnittlich erfolgreich seien, weil sie einem konfuzianisch geprägten Ethos anhängen: “Wenn Aufstieg durch Bildung eine vom Glauben vorgegebene Verpflichtung darstellt, erklärt sich auch, weshalb vietnamesische Eltern ihren schulpflichtigen Kindern jede erdenkliche Hilfe und Unterstützung angedeihen lassen.”
Nachtrag 12. März 2023
Souverän die Forschung von Toprak u.a. ignorierend, versuchen R. Ceylan und M. Kiefer, zwei Forscher der Uni Osnabrück, die Silvesterkrawalle aus “sozialräumlichen Hintergründen” heraus zu erklären und eine Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft zur Ursache zu machen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist sich nicht zu schade, ein Papier von Ceylan und Kiefer zu publizieren, deren Hauptquellen allen Ernstes Zeitungsmeldungen sind.
Nachtrag 2. April 2023
Eine Studie des “Vereins Demokratie und Vielfalt” von 2021 hat ergeben, dass im muslimisch geprägten Milieu von Berlin-Neukölln offenbar “immer jüngere Mädchen mit Kopftüchern den Unterricht besuchen“, mithin “die Autonomie von heranwachsenden Frauen abzunehmen” scheine. Dies berichteten die Gesprächspartner im Interview. In der Studie heisst es weiter: “Als überwachende und strafende Instanzen treten manchmal neben den Eltern auch (ältere) Brüder auf, die die Einhaltung der Familienehre überwachen und Übertritte sanktionieren.“
Nachtrag 12. November 2023
Der “Tagesspiegel” (Ausgabe vom 10.11.) berichtet von den alarmierenden Erfahrungen des Berliner Sozialarbeiters Wolfgang Büscher, der unter muslimischen Jugendlichen immer wieder mit religiös motivierten Provokationen zu tun hat, die zum Teil mit Gewaltdrohungen einhergehen. Die Radikalisierung habe nicht erst mit dem Überfall der Hamas auf Israel begonnen, sondern finde bereits seit Jahren statt. Die Syrer, die seit 2015 gekommen sind, haben sich kaum integriert, würden zudem an Brennpunkten untergebracht anstatt über die Stadt verteilt. Zentral sei, dass Kinder aus muslimischen Familien in Schulklassen nicht in die Mehrzahl gerieten, so Büscher.