Plastiktüten! CO2! Schere zwischen Arm und Reich! Sozialismus! Enteignung! Umverteilung! Egal, welchen Fernsehsender man einschaltet, welche Zeitung man in die Hand nimmt, dauernd werden einem diese Themen um die Ohren gehauen. Von einem allgemeinen Kulturpessimismus zu reden, wäre zwar übertrieben, aber ein Wohlstandsüberdruss hat sich allenthalben breitgemacht.
Derweil ist Chinas wirtschaftliche Entwicklung, in jüngster Zeit nur wenig getrübt, beeindruckend. Vor allem herrscht im Land eine Aufbruchstimmung, die man in Europa immer weniger, hier vielleicht noch am ehesten im Baltikum findet. Auch Umweltschutz ist in China zum Thema geworden. In Shenzhen fährt mittlerweile die gesamte Busflotte der städtischen Verkehrsbetriebe elektrisch und haben mittlerweile mehr als dreissig chinesisch Städte angekündigt, dem Beispiel folgen zu wollen.
Das freilich ist Innovation, von der die Verzichts- und Enthaltsamkeitsprediger im Westen nichts wissen wollen. Sollten wir also China kopieren? Natürlich nicht. Die Betonung der Moral und der andauernden Selbstveredlung als Ausdruck von Pflichtbewusstsein gegenüber der Gesellschaft bilden die Schattenseite des chinesischen Systems. Der repressive Charakter der Regierung, die das Land unter ihrer strikter Kontrolle behält und keine Pressefreiheit erlaubt, ist enorm, es betrifft aber nicht nur die Chinesen, wenn das Land mehr und mehr das Kino und selbst die Berichterstattung anderer, nicht zuletzt europäischer, Länder beeinflusst.
Schon unter den Ming und ab 1644 unter den Qing war China mit Handelsrouten weit über seine Grenzen hinaus verflochten und ah sich das Land als Zentrum der globalen Wirtschaft, aber gerade unter den Qing war das Land eben auch ein Apartheidsstaat, der strikte Rassentrennung vorschrieb und Heiraten zwischen den Mandschu, der herrschenden Ethnie, und Han-Chinesen verbot, während die Regierung Ländereien verstaatlichte und aussenpolitisch bis ins 19. Jahrhundert auf Expansion setzte. Damals schon betrachtete China seine Randzonen als Eigentum und sich selbst als ein Land ohne wirkliche Grenzen.
Dennoch wäre es falsch, China nur aus seiner Vergangenheit heraus verstehen zu wollen. Vorbei die Zeiten, als die Nation China sich „ausländischer Teufel“ (yángguǐzi) erwehren musste. Vorbei die Zeiten, da sich die Mitschüler eines Bruce Lee weigerten, mit diesem Wing Chun zu trainieren, da er kein reiner Chinese sei. China wird immer mehr zu einem Magneten für Kreative und Firmengründer aus aller Welt.
Es ist das wohl einzige Beispiel eines autoritären Systems, aus der die Menschen nicht fliehen, sondern das die Menschen anzieht – vor allem, aber nicht nur, die Gebildeten, Ehrgeizigen, Abenteuerlustigen und Aufstrebenden. Vorbei sind auch die Zeiten, als allenfalls ein paar Sinologen Chinesisch lernten. Mittlerweile hat China einen Imagewandel durchgemacht und erlangt einen gewissen Coolness-Faktor.
Auch wenn Städte wie Shenzhen zwar hauptsächlich Binnenmigranten aus den ländlichen Gebieten anziehen und der Anteil der Migranten aus dem Ausland noch immer viel geringer ist als z.B. der in Deutschland, so kann sich das Land diesem Zustrom von aussen nicht entziehen und steigt die Zahl derer, die sich in China heimisch fühlen. Letztlich wird das Land um eine Antwort auf die Frage nach seiner Identität in einer globalisierten Welt nicht herumkommen.
Aktuell hat sich das Klima gegenüber Ausländern zwar wieder verschlechtert, seitdem die Führung gezielt nationalistische Leidenschaften anzuheizen versucht. „Das Volk kann dazu gebracht werden, etwas zu befolgen, aber nicht dazu, es zu verstehen“ sagt Konfuzius (Lunyu 8.9). Vielleicht bedeutet das aber nur, dass sich die Regierung, die dieses Klima schürt, der eigenen Bevölkerung entfremdet. Noch ist nicht abzusehen, wohin die Reise geht.
Chinas Einfluss in der Welt wird in jedem Falle weiter wachsen. Mag der Westen derzeit noch wettbewerbsfähiger sein als das Land der Mitte, so ist doch abzusehen, dass die chinesische Wirtschaftsleistung in weniger als einem Jahrzehnt stärker als die amerikanische sein wird. Auch Indien drängt nach vorne und damit auf den europäischen Markt. Von der Globalisierung freilich können alle Länder profitieren, wenn sie sich dem Wettbewerb stellen.
Damit Europa nicht zu einem Spielball der neuen Mächte und ihres Hungers nach Wohlstand wird, brauchen wir eine starke EU und das heisst: Eine EU, die sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat. Dann können sie mit Zuversicht auf ein wirtschaftlich erstarkendes Asien, vor allem auf China, blicken.
Wenn Deutschland und Europa allerdings auf Umverteilung und Wachstumsverzicht setzen, wird sie das teuer zu stehen kommen – ohne dass es der Umwelt genützt oder ein Phantom namens soziale Gerechtigkeit hätte real werden lassen.
Nachtrag 18. Dezember 2019
[Geringfügige Änderung am Text]
Nachtrag 17. Februar 2020
Zur meiner Vermutung „Vielleicht bedeutet das aber nur, dass sich die Regierung, die dieses Klima schürt, der eigenen Bevölkerung entfremdet“: Auch wenn die derzeitige, durch das Corona-Virus entfache Krise nichts am Willen der chinesischen Führung ändern wird, das Land mit eiserner Faust zu regieren, so gibt es doch Hinweise, wie die Politologin Yuen Yuen Ang im „Project Dyndicate“ ausführt, dass der Machtapparat Risse bekommen hat. Der autoritäre Stil von Präsident Xi Jinping jedenfalls hat sich als ineffizient im Kampf gegen das Virus erwiesen und seine Glaubwürdigkeit beschädigt. Denkbar wäre u.a., dass Xi das Schicksal Maos ereilt: Er könnte bald faktisch abgesetzt werden und dann nur noch dem Namen nach Präsident sein.
Nachtrag 15. April 2020
Auch wenn sich seit Deng Xiaoping und noch mehr seit Mao viel im Land verbessert habe, schreibt Guy Sorman im „City Journal“, sei Chinas Wirtschaftswunder ein faules Ei. Das Grundübel Chinas sei immer noch die herrschende Kommunistische Partei, der es nur um die Macht gehe, nicht aber um eine Verbesserung des Lebens von einer Milliarde Chinesen: „China is no longer totalitarian. Yet the 60-million-member Communist Party, if subtler, remains cruel and omnipresent.“ Veränderung zum Besseren komme, wenn überhaupt, durch die Globalisierung, nicht durch die Machthaber.
Nachtrag 19. April 2020
H.R. McMaster, ehemaliger Sicherheitsberater von Präsident Trump, warnt im „Atlantic“ vor Illusionen gegenüber China. Die Annahme, China werde sich den Regeln der Weltgemeinschaft fügen und politisch liberalisieren, sei ein Irrtum. Vielmehr setze die chinesische Führung alles daran, ihr autoritären Modell zu zementieren und auszuweiten: „Chinese leaders aim to put in place a modern-day version of the tributary system that Chinese emperors used to establish authority over vassal states. Under that system, kingdoms could trade and enjoy peace with the Chinese empire in return for submission.“ McMaster empfiehlt daher eine westliche Aussenpolitik, die China in seine Schranken weist, da es sonst nur noch aggressiver sein statisches Wirtschafts- und autoritäres Politikmodell vorantreiben werde.
Nachtrag 5. Juni 2020
Deutschland gerät in Sachen Innovation zunehmend gegenüber den USA und China ins Hintertreffen, berichtet die „Welt“ aus einer Studie der Bertelsmann Stiftung: „China und seine ostasiatischen Nachbarn haben (…) in den vergangenen 20 Jahren eine beispiellose Aufholjagd gestartet.“ Nicht zuletzt Fotovoltaik und Recycling-Technologien, die einst in Deutschland sehr stark waren, werden „heute eher in der Volksrepublik als in Deutschland entwickelt“.
Nachtrag 1. September 2020
Der Ökonom Branko Milanovic schreibt in „Foreign Affairs“ vor allem mit Blick auf China und Indien: „For the first time in two centuries, Westerners with middling incomes within their own nations will no longer be part of the global elite—that is, in the top quintile (20 percent) of global incomes. This will be a truly remarkable development.“ Der Handels- und Technologiekrieg zwischen den USA und China kenne deshalb keine Gewinner, nur Verlierer.
Nachtrag 11. November 2020
Der ehemalige deutsche Botschafter in den USA, Peter Wittig, erklärt im Interview mit dem „Spiegel“, dass Deutschland von einem Präsidenten Joe Biden nicht zuviel erwarten sollte: „Die alte Ordnung wird so nicht mehr zurückkehren. Europa wird auch unter Biden nicht mehr so wichtig sein, wie es früher einmal war. Das neue Gravitationszentrum ist Asien mit China als dem strategischen Rivalen der USA.“ In diesem Zusammenhang urteilt er über Trump: „Die Beziehungen zu China werden die strategische Achse der USA auch im kommenden Jahrzehnt sein. In diesem Sinne war Trump dafür eine Art Wegbereiter.„
Nachtrag 21. April 2023
Eine Analyse des „EastAsiaForum“ kritisiert, dass in Australien der grosse Nachbar im Indopazifik, China, fast nur noch unter sicherheitspolitischen Aspekten betrachtet wird: „Australian university students’ decisions to choose international, strategic and security studies over the study of China’s history, language and culture are highly rational. The payoff for studying languages is low. […] A narrow security lens can lead to a serious problem of groupthink.“