Nach Hanau

Die schreckliche Bluttat von Hanau hinterlässt Angehörige und Freunde, die ihre Liebsten für immer verloren haben. Menschen wurden kaltblütig ermordet, weil sie einen Migrationshintergrund hatten und ein skrupelloser Rechtsextremist glaubte, er habe das Recht, darüber zu entscheiden, wer leben dürfe und wer nicht.

Ich habe vor einiger Zeit, nach dem Anschlägen von Christchurch und Halle darauf hingewiesen, dass auch in Deutschland eines, vielleicht nicht mehr fernen, Tages ein grösserer Anschlag nicht nur auf Juden und jüdische Einrichtungen, sondern auch auf Muslime und muslimische Einrichtungen stattfinden könnte und wir deswegen wachsam sein müssen.

Im konkreten Falle des Rechtsterroristen von Hanau hätte man einen Anschlag vielleicht verhindern können. In seinem Manifest spricht der Terrorist, der offenbar unter einer Schizophrenie litt, davon, dass er im Januar 2002 erstmals zur Polizei gegangen sei, um dort eine Anzeige wegen illegaler Ãœberwachung zu stellen. Er war davon überzeugt, sein ganzes Leben lang in den „Fängen einer Geheimorganisation“ gewesen zu sein.

Heute bestätigt die Bundesanwaltschaft, dass es den Versuch einer solchen Anzeige tatsächlich gegeben hat, ein Ermittlungsverfahren aber nicht eingeleitet worden sei. Da es nicht strafbar ist, psychisch krank zu sein, konnte man ihn auch nicht festhalten. Allerdings überrascht es nicht, dass jemand, der glaubt, er werde von Geburt an überwacht, zu allem fähig ist. Hier hätte es Möglichjeiten geben müssen, den späteren Terroristen zu therapieren, bevor er zu einer Gefahr für die Allgemeinheit wird.

Deswegen ist jetzt die Zeit, über konkrete Massnahmen für die Sicherheit möglicher Anschalgsziele und zur Prävention von Anschlägen auszuarbeiten und umzusetzen. Claudia Roth von den Grünen, mit der ich selten einer Meinung bin, hat kürzlich in einer Talkshow einen Vorschlag gemacht, den ich für sinnvoll halte: Eine Taskforce gegen den Rechtsextremismus zu gründen, die z.B. gegen sogenannte Feindeslisten vorgeht, die Rechtsextremisten im Internet anlegen.

Was dieser Tage freilich besonders abstossend ist, sind die Versuche von Rechten wie von Linken, den Massenmord von Hanau für politische Zwecke auszunutzen. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums haben wir einen Herrn Klonovsky, persönlicher Referent von AfD-Gauland, der das Blutbad von Hanau in einen Zusammenhang mit Multikulturalismus bringt, den er für potentiell tödlich hält. Wer so argumentiert, rechtfertigt letztlich nur die Mordtat und es sagt auch einiges über die AfD, wenn sie sich von solchen Leuten beraten lässt.

Wir haben solche Erfahrungen kurz nach der Widervereinigung, also in den frühen 1990ern, gemacht, als allerorten Asylantenheime abgefackelt wurden und überall sich Stimmen zu Wort meldeten, die die Verantwortung bei den Opfern selbst suchten. Schon vor bald dreissig Jahren glaubten sechzehn Prozent der Deutschen, die Politik müsse mit Rechtsradikalen zusammenarbeiten, um „das Problem der Ausländer“ in den Griff zu bekommen – die Rechtsradikalen, das waren damals die „Republikaner“.

Nein, den Anschlag mit der Einwanderung in Verbindung zu bringen, ist unanständig, perfide, zynisch. Wir können gerne über Einwanderung diskutieren – aber nicht und niemals im Zusammenhang mit einem Attentat wie in Hanau! Gewisse Tabus muss es in einer zivilisierten Gesellschaft einfach geben. Wer meint, solche Tabus im Namen der Meinungsfreiheit brechen zu müssen, redet dem Pöbel das Wort und trägt Mitverantwortung am nächsten Anschlag.

Auf der linken Seite des politischen Spektrums wiederum gibt es Versuche, gleich die ganze Gesellschaft in Haftung zu nehmen, und früher oder später wird man auf die Ansicht stossen, dass der Rechtsterrorismus irgendwie mit dem Kapitalismus zusammenhängt, der ein Interesse daran haben soll, die Menschen, um sie besser ausbeuten zu können, gegeneinander aufzuhetzen. Doch das ist erst der nächste Schritt. Mit Erstaunen jedenfalls nimmt man zur Kenntnis, dass selbst Hannah Arendt an Hanau irgendwie schuldig sein soll. Hannah Arendt!

Vielleicht sollte man rechtsextreme Ideologie einfach einmal ernstnehmen und vielleicht sollte man begreifen, dass nicht alle Rechtsextremen sich aus derselben geistigen Quelle speisen. Im Falle des Terroristen von Hanau hat dieser selbst einen Hinweis darauf gegeben, welche Vordenker ihn inspiriert haben. Überall in den Medien wird aus dem Manifest zitiert, aber dessen Inspirationsquellen ignoriert, die sich auf derselben, mittlerweile abgeschalteten Webseite des Mörders finden.

Im Manifest selbst kommen die Begriffe „Deutschland“, „deutsch“, „Deutsche“ etwa zanzig Mal vor. Dagegen tauchen die Begriffe „Amerikaner“, „amerikanisch“, „USA“ etwa dreissig Mal auf. Das ist an sich schon bemerkenswert, dass ein Rechtsterrorist, der sein ganzes Leben in Deutschland verbracht hat, sich dermassen stark auf die USA bezieht. Dazu passt, dass die Links, die sich auf der Webseite befanden, ausnahmslos auf amerikanische Esoteriker verweisen:

  • Dazu gehört eine rechtsextreme Ufo-Seite, auf der behauptet wird, dass die menschliche Seele nach ihrem Tod in eine sorgfältig konstruierten Falle gelockt werde und dass die Erde eine solche Falle sei, überbaupt die ganze Galaxie, und dass die Menschen diese und sich selbst retten müssten. Auf der Webseite finden sich allerlei Verschwörungsmythen.
  • Eine weitere Webseite wird von einem ehemaligen Soldaten der US Airforce betrieben, der nach eigenen Angaben an geheimen genetischen Experimenten mitgewirkt hat und sich heute damit beschäftigt, die Erde vor einem „Planetiziden“ zu bewahren!
  • Eine andere Webseite stammt von einem ehemaligen amerikanischen Holzfäller, der 1975 bei der Arbeit ein Ufo gesichtet haben und von Ausserirdischen entführt worden sein will. Später schrieb er ein Buch darüber, das er online bewirbt.
  • Eine weitere Webseite wurde nach eigenen Angaben von ehemaligen US-Polizisten ins Leben gerufen, um mysteriöse Vermisstenfällen in Nationalparks und -wäldern auf eine unheimliche Kreatur namens „Bigfoot“ (auch genannt: Sasquatch oder Wildman) zurückzuführen. Die Webseite verweist ihrerseits auf Konferenzen zu den Themen „Bigfoot“ und Ufos.

Das ist alles komplett irre und bescheuert. Der Hanau-Terrorist lebte in einer Welt der Totalüberwachung, des Weltuntergangs, der Ufos und der Monster. Glaubt man dem Manifest des Attentäters – und es gibt keinen Grund, es nicht zu tun – dann verübte er das Blutbad in seiner Heimatstadt nicht allein, weil Deutschland nicht „Milliarden“ Zuwanderer aufnehmen könne, sondern auch, weil er ganz im Sinne der verlinkten Webseiten esoterisch dachte und glaubte, die Menschheit sei berufen zur „Lösung des Rätsels“.

Das „Rätsel“, das hier gelöst werden soll, ist das Wissen um die kosmischen Zusammenhänge, das nur erlangt werden könne, wenn Teile der Menschheit zuvor ausgerottet würden. Hier vermischt sich ein rechtsextremer Gnostizismus mit eliminatorischem Rassenhass. Letzterer empfand der Terrorist von Hanau übrigens nicht nur für mehrheitlich muslimische Völker, sondern auch für Inder, Vietnamesen, Laoten, Kambodschaner und Philippiner, die ein solcher Anschlag ebensogut hätte treffen können, wie die Hanauer Bürger kurdischer und türkischer Herkunft, die nun kaltblütig ermordet wurden.

Gerade die Gnosis, der in rechtsextremen Zirkeln gehuldigt wird, bedarf besonderer Aufmerksamkeit in der Prävention, womit wir wieder bei der Forderung nach konkreten Massnahmen wären, die wir neben einem Zusammenhalt aller Demokraten über das Parteienspektrum hinweg gegen Rassenhass, Rechtsextremismus und Neonazismus benötigen. Versuche von rechter wie von linker Seite, den Massenmord für ideologische Zwecke zu instrumentalisieren, sollte unterlassen, wer Anstand hat.


Nachtrag 24. Februar 2020

Es hört nicht auf. Dabei hätte spätestens nach der gescheiterten Stelen-Aktion eines „Zentrum für politische Schönheit“ auch dem Letzten klar sein müssen, dass man sich des Andenkens Ermordeter für eine noch so gutgemeinte Sache besser nicht bedient.

Die Hetzseite J***** W****, die alles an den Online-Pranger stellt, was ihrer völkisch-neonazistischen Weltsicht als Feind erscheint, ist noch immer nicht dauerhaft abgeschaltet, wie die „Süddeutsche“ berichtet.

Mittlerweile hat es auch in Stuttgart, Döbeln und Heilbronn Schüsse und Brandanschläge auf Shisha-Bars gegeben.

Nachtrag 25. Februar 2020

Auch ein Populist: Friedrich Merz, der sich um den Vorsitz der CDU bewirbt, glaubt, dem Rechtsradikalismus mit der stärkeren Thematisierung von Clankriminalität, Grenzkontrollen etc. beikommen zu können (ab 1:00:47).

Beides sind legitime Themen, aber die erste Antwort gegen Rechtsradikalismus sollte immer noch die Ächtung sein – gerade nach einem Anschlag wie dem von Hanau. So spielt letztlich auch ein Merz nach den Regeln der Rechtsradikalen.

Nachtrag 27. November 2020

Nach Informationen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ hat der forensische Psychiater Henning Saß im Auftrag der Bundesanwaltschaft ein Gutachten erstellt, wonach der Attentäter von Hanau an einer paranoiden Schizophrenie litt, die sich mit einer rechtsradikalen Ideologie verband.

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