Eine merkwürdige Preisrede

Ich mag ja den Navid Kermani. Er kann formulieren und weiss seine Leser mitzureissen. Aber manches an seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels mutet doch recht merkwürdig an. Wenn der von ihm erwähnte Pater Jacques, der dem Kloster Mār Mūsā in der syrischen Wüste zugehört, seine Liebe zum Islam bekundet, dann entgeht Kermani hierbei der Kontext.

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Kloster Mar Musa, Syrien

Bei aller Wertschätzung für das Bemühen um Verständigung, das in diesem Kloster gepflegt wird, so muss man solche Äusserungen wie die von Pater Jacques doch vor allem als Ausdruck von Konfrmitätsdruck sehen, der schwer auf den islamischen Gesellschaften lastet. In diesen nämlich ist der Islam das einzige weltanschauliche Medium, in dem gesellschaftliche und politische Anliegen artikuliert werden.

Ob Demokratie, Säkularismus, Pluralismus oder Feminismus – alles wird mit dem Islam und mit dem Propheten legitimiert. Das wird auch von Christen so gehalten, was Kermani offenbar nicht bewusst ist. So hatte z.B. der libanesische Politiker und Publizist Sulaymān al-Bustānī (1856-1925), selbst ein maronitischer Christ, für demokratische Strukturen geworben, indem er argumentierte, dass die beratende Versammlung in der Scharia festgelegt und von den arabischen Kalifen praktiziert worden sei.

Es ist eben so, dass in der Islamischen Welt jeder, auch der Nichtmuslim, mit dem Islam argumentiert, geradezu argumentieren muss, wenn er Gehör in der Gesellschaft finden will. Aber über den religiös induzierten Konformitätsdruck in den islamischen Gesellschaften verliert Kermani kein Wort. Stattdessen idealisiert er die Blütezeit der arabisch-islamischen Kultur, worin er sich offenbar vom Buch des Münsteraner Arabisten Thomas Bauer hat beeinflussen lassen. Das Buch selbst ist in vierlei Hinsicht problematisch, weil es die Deutung der Fakten überstrapaziert.

Ira M. Lapidus, einer der bedeutendsten Kenner der islamischen Sozialgeschichte, hat darauf hingewiesen, dass die Verweltlichung der Herrschaft immer extreme Gruppierungen auf den Plan gerufen hat, die eine Erneuerung der muslimischen Moral forderten. In der islamischen Geschichte haben sich Toleranz und Unterdrückung daher stets abgewechselt.

Eine einseitige Verklärung der islamischen Blütezeit, wie Kermani sie vornimmt, verschleiert diesen Aspekt. Im ostarabischen Raum wurde der Bau neuer Kirchen bis zum zwölften Jahrhundert nur gelegentlich geduldet; in Ägypten wiederum kam es 1321 zu Ausschreitungen gegen Christen, die man der Kumpanei mit den Mongolen beschuldigte. Die Ausschreitungen wurden von der Obrigkeit per Dekret noch im Nachhinein legalisiert.

Auch die osmanische Eroberung Thrakiens im 14. Jahrhundert war mit äusserster Brutalität abgelaufen. Christen wurden getötet, aufgespiesst, auf dem Feuer geröstet, ihre Augen ausgestochen und mit Schein-Kannibalismus eingeschüchtert, wie die Vita eines der osmanischen Anführer, Seyyid ʿAlī Sulṭān, berichtet. Im Osmanischen Reich war es noch bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts Christen untersagt, auf Tieren zu reiten und Muslime als Diener zu beschäftigen. Christen waren unter osmanischer mehr noch als unter arabischer Herrschaft einer feindseligen Politik ausgesetzt.

Natürlich lässt sich das christlich-muslimische Verhältnis nicht auf solche Ereignisse reduzieren. Ganz überwiegend in der Geschichte haben Christen und Muslime friedlich zusammengelebt. Aber wenn Kermani meint, hier der Auffassung Vorschub leisten zu müssen, die Engstirnigkeit und Intoleranz, mit der die Islamische Welt aktuell von sich reden macht, sei etwas neues, dann ist das nicht zutreffend.

Auch die Sufis werden von Kermani romantisch verklärt, hierin, wie er selbst zugibt, ganz von der verstorbenen Orientalistin Annemarie Schimmel beeinflusst. Diese freilich war in ihrem Fach nie unumstritten. So fortschrittlich sind die Sufis denn auch nie gewesen. Der Arabist Ignaz Goldziher hat daran erinnert, dass ihr Ziel im „Aufheben des Individualbewusstseins und die völlige Absorption in der Gottesidee“ liegt, (Ignaz Goldziher, Die Richtungen der islamischen Koranauslegung, Leiden 1970, 208.) was gewiss nicht als Grundlage für einen islamischen Humanismus taugt, von dem man sagen könnte, dass er eine Aufklärung überflüssig mache. Ein anderer Arabist, Tilman Nagel, kritisiert daher eine „romantisierende Orientkunde“, die die Voraussetzungen der sufischen Lehre einfach missachtet. ((Tilman Nagel, Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam, Berlin 2014, 131-3.))

Hinzu kommt, dass Sufis lange ein enges Verhältnis zur Macht pflegten, was vor allem im Osmanischen Reich der Fall war. Aber auch ausserhalb davon: Kermani sollte wissen, dass es die sufischen „kızılbaş“ waren, die die Schia in das Land seiner Eltern brachten, wo es 1501 Staatsreligion wurde. Die kızılbaş waren nun alles andere als friedfertige Gottessucher gewesen, sondern kriegerische Eroberer. Wie konnte Kermani das entgehen, wie konnte er es verschweigen?

Entgangen ist Kermani auch, dass der von ihm gepriesene Ibn Baṭṭūṭa, der grosse Reisende des 14. Jahrhunderts, wohl nie gereist ist. Schon dessen Zeitgenossen hatten Zweifel an der Echtheit seiner Reisebeschreibungen, wie Kermani dem Standardwerk der westlichen Islamwissenschaft hätte entnehmen können, der „Enzyklopädie des Islam“. Heute weiss man durch genaue Textstellenanlyse, dass der ganze Bericht fingiert war. Ein tolles Vorbild für uns Heutige also.

Am unglaublichsten (wenn man so sagen kann) ist aber Kermanis Darstellung des vorderasiatischen Modernisierungsprozesses, indem er suggeriert, Moderne sei in der Islamischen Welt „wesentlich eine Gewalterfahrung“ gewesen. Das ist ganz einfach falsch, denn es hat seit dem 19. Jahrhundert eine umfangreiche Publizistik gegeben, in der muslimische und christliche Intellektuelle des Vorderen Orients allerlei fortschrittliches Gedankengut debattierten und propagierten. Gewiss, das war ein Elitenprojekt, keine Frage. Aber unter der Bildungselite war das alles sehr populär.

Diese Publizistik war überhaupt erst möglich geworden, seitdem das Druckerwesen Einzug in die Islamische Welt gehalten batte und zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften gegründet wurden. Aber auch die Modernisierung von oben war nicht immer „brutal“, wie man am Osmanischen Reich sehen kann, dessen Reformmassnahmen zu einer rechtlichen Gleichstellung der Christen wie auch zur Einrichtung von sog. niẓamīye-Gerichte führten, die für das verfassungsmässig garantierte Recht auf Einbringung von Petitionen zuständig waren. Auch waren Inspektoren ausgebildet und in die Provinzen entsandt worden, um Massnahmen zur Verbesserung der lokalen Verwaltung zu erkunden.

Stattdessen bedient Kermani das Narrativ vom muslimischen Opferkollektiv, das sich nur auf seine alte Grösse besinnen müsse, um das Elend der Gegenwart zu überwinden. Für den Friedenspreis freilich reicht das natürlich. Etwas anderes wird ja auch nicht erwartet und akademische Massstäbe müssen an die Rede auch nicht angelegt werden. Wenn es um den Islam geht, ist eben Schwärmerei angesagt.

(Abb. Kloster Mār Mūsā, Syrien, aufgenommen im Jahre 2010. (c) Michael Kreutz, Bochum)

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