Als ich vor vielen Jahren einmal Stipendiat des Staates Israel war, wurde ich mit den anderen Stipendiaten vom Aussenministerium in Jerusalem eingeladen. Dort erhielten wir als Willkommensgeschenk u.a. eine BroschĂĽre mit Fragen und Antworten rund um das Thema Israel, in der es auch ein Lemma „Holocaust“ gab. Was ich dort las (ich habe die BroschĂĽre heute noch), verblĂĽffte mich.
Mit keinem einzigen Wort wurde erwähnt, dass es Deutsche waren, die den Holocaust verschuldet hatten. Dort war immer nur von „Nazis“ die Rede, von „Hitler“, sowie von „Hitler und den Nazis“. Mit Deutschland und den Deutschen schien der Holocaust nichts zu tun zu haben. Eine solche Darstellung der Geschichte wäre damals in Deutschland nicht mehr möglich gewesen, seitdem Mitte der 1990er Jahre der damalige Bundespräsident Roman Herzog in einer Rede zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz öffentlich ausgesprochen hatte, wer die Nazis waren, nämlich Deutsche. ((Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog zum Gedenktag fĂĽr die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag, 19. Januar 1996, URL: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1996/01/19960119_Rede.html.
Dieses Narrativ, dass der Judenhass auf eine SS-Elite beschränkt gewesen sei, sollte erst 2013 mit dem unseligen Fernsehdreiteiler „Unsere MĂĽtter, unsere Väter“ wiederbelebt werden. Vgl. „Everybody’s a critic“, 12. Mai 2014, URL: http://www.transatlantic-forum.org/2014/everybodys-a-critic.)) Auch Daniel Jonah Goldhagen, Autor des weithin beachteten Buches „Hitlers willige Vollstrecker“, machte deutlich, dass eine Mehrheit der Deutschen vom Judenhass infiziert war, wies aber, wie auch Herzog, die Vorstellung von einer Kollektivschuld zurĂĽck. ((„Die Vorstellung einer Kollektivschuld lehne ich kategorisch ab.“ Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, Vorwort zur deutschen Ausgabe, S. 11.))
Ortswechsel. Vor Jahren war ich einmal zu Forschungszwecken in Nantes, nahe der französischen AtlantikkĂĽste. Im Stadtzentrum gibt es ein Denkmal zur Erinnerung an die Naziverbrechen, genaugenommen ein dreifaches: Eine erste Erinnerungstafel gedachte der Opfer der Deutschen; eine zweite Tafel, Jahrzehnte später installiert, gedachte der Opfer der Nazis; eine dritte, noch einige Jahrzehnte danach angebracht, derer des Krieges. Aus Deutschen wurden Nazis wurde Krieg – der Wille zur Vernichtung geht unter im Kanonendonner.
Ich erwähne diese Anekdoten nur, um zu zeigen, wie sehr man im Ausland geradezu darauf erpicht ist, jeden Eindruck zu vermeiden, man würde die Deutschen von heute mit denen von damals gleichsetzen, indem man sie einer Kollektivschuld bezichtigt, die bis heute fortdauere. Das Gegenteil ist der Fall. Wie erbärmlich mutet es da an, wenn in Deutschland immer wieder Zeitgenossen jammernd fordern, einmal müsse es doch mit der deutschen Schuld ein Ende haben, ein Volk könne nicht ewig für die Taten seiner Vorfahren haftbar gemacht werden. Nur, wer behauptet das?
Die Forderung, mit einem vermeintlichen Schuldkomplex aufzuräumen, der Deutschland aufgezwungen werde, grĂĽndet nicht auf Fakten, sondern ist einer Wahnvorstellung geschuldet, derzufolge Deutschland noch immer nicht souverän sei und sich zunächst geistig befreien mĂĽsse, um danach seine Eliten abzuschĂĽtteln, die es schwächen und vernichten wollen. Wie vernichten? Durch angebliche „Umvolkung“ und einen „grossen Austausch“. Das ist die Sprache von Rechtsextremen und ein völkisches Brodeln, das sich mit PEGIDA und der mit dieser personell verbundenen Initiative „Festung Europa“ da artikuliert:
„Einen ersten Schritt haben wir am 9. November 2015 gemeinsam bei PEGIDA vollzogen: Wir erklärten den deutschen Schuldkomplex fĂĽr offiziell beendet. Rational und logisch begrĂĽndet. Doch diese ĂĽberfällige Befreiung von den uns aufgezwungenen, kollektiven SchuldgefĂĽhlen kann nicht nur im Verstand geschehen. Es geht auch um die Befreiung der herabgewĂĽrdigten, deutschen Seele.“ ((URL: https://www.facebook.com/events/1092001234154057/))
Die angebliche Islamisierung Deutschlands (die es partiell geben mag, aber gewiss nicht flächendeckend) dient also nur als Vorwand fĂĽr den Aufruf, die „herabgewĂĽrdigte, deutsche Seele“ zu „befreien“. Wer so redet, dem geht es nicht um eine Kritik am Islamismus oder an mangelnder Integrationsbereitschaft in Teilen der islamischen Community – dem geht es um die eigene Metamorphose vom vermeintlichen Paria zum selbstbewussten Opfer. Diese Selbstviktimisierung ist freilich ebenso dumm wie gefährlich und vielleicht nicht das einzige, was PEGIDA & Co. mit den Dschihadisten gemeinsam haben, insofern als beider Sprache dazu geeignet ist, in Gewalt umzuschlagen.
Tatsächlich ist sie schon in Gewalt umgeschlagen: Die brennenden Asylantenheime und geschändeten Moscheen zeigen es ĂĽberdeutlich. Solche Ăśbergriffe dĂĽrfen nicht toleriert oder verharmlost werden. ((Vgl. „BKA-Chef MĂĽnch: Die Qualität der Gewalt gegen FlĂĽchtlinge steigt“, Welt Online vom 14.05.16, URL: http://www.welt.de/politik/deutschland/article155348246/Die-Qualitaet-der-Gewalt-gegen-Fluechtlinge-steigt.html.))