Etwas ist anders

Wenn die Lautsprecher, Propagandisten, Schรถnredner, Versteher und Lobbyisten des iranischen Regimes zu den aktuellen Ausschreitungen entweder schweigen oder das Lager wechseln, dann hat sich etwas geรคndert.

Alle paar Jahre kommt es in Iran zu landesweiten Massenprotesten. Sie entzรผnden sich meist an einem Fehlverhalten des Staates und richten sich schliesslich gegen das islamische System als ganzes.

War es in der Vergangenheit jedoch so, dass dubiose Iranexperten sich sogleich beeilten, in westlichen Medien die Ausschreitungen als blosse Proteste gegen die Brotpreise oder รคhnliches herunterzuspielen, ist diesmal alles anders.

Leute, von denen man es nie erwartet hรคtte, nennen jetzt die Dinge beim Namen: Dass nรคmlich die Iraner es satt haben, in einer religiรถsen Diktatur zu leben. Dass es nicht zum Reformen oder das Kopftuch geht, sondern um ein Ende der Diktatur.

Es mag sein, dass in Iran auch die aktuellen Proteste gewaltsam niedergeschlagen werden. Man darf nicht unterschรคtzen, dass die Machthaber vierzig Jahre Zeit hatten, einen umfassenden Repressionsapparat aufzubauen. Aber der Geist ist aus der Flasche.

Die Welt sieht, dass es in Iran nicht um Reformen geht, noch nie gegangen ist, sondern um ein Ende des Systems. «Khamenei qatel e, velayati batel e» heisst eine der Parolen, die dieser Tage wieder einmal auf den Strassen Irans erschallen: «Khamenei ist ein Mรถrder, seine Herrschaft annulliert.» Das Regime, selbst wenn es diese Runde erfolgreich รผberstehen sollte, wird jederzeit mit weiteren Aufstรคnden zu rechnen haben.

Dass die aktuellen Proteste in Iran sich zeitgleich mit einem Exodus aus Russland und Protesten gegen Putin abspielen, wรคhrend auch in China der Unmut รผber die Einparteienherrschaft wรคchst, zeigt: Nicht das liberale Modell des Westens steht unter Druck. Sondern der Autoritarismus des Ostens.


Nachtrag 13. Oktober 2022

Apropos China: In Beijing haben Unbekannte zwei systemkritische Banner an einer Brรผcke aufgehรคngt. Die taz spricht von «einer der grรถssten Protestaktionen in zwanzig Jahren».

Nachtrag 15. November 2022

Auf «Big Think» schreibt Hooman Majd: «As with all things Iran over the last 43 years, time will tell, and we will have to wait and see. (โ€ฆ) But this time, yes, it feels different.«

Nachtrag 30. Dezember 2022

«Als im September 2022 die Proteste im Iran begannen, versuchten die linksliberalen Medien, ihren Kurs beizubehalten, und erklรคrten sich zugleich mit den Frauen im Iran solidarisch. Dieser Spagat konnte nicht gelingen«, heisst es in einem Artikel in der «Jungle World», der den Opportunismus deutscher Feuilletons in Bezug auf das muslimische Kopftuch vorfรผhrt, das jahrelang als Ausdruck von Diversitรคt verklรคrt wurde und die Verklรคrer von einst nun zu mancher Volte veranlasst.

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