Säubern und vernichten

Die Töne aus Moskau werden immer schriller. Ein Kommentar der Nachrichtenagentur RIA NOVOSTI unter der Überschrift “Was sollte Russland mit der Ukraine machen?” ruft zur umfassenden Entnazifizierung der Ukraine nach einem russischen Sieg auf. Nicht nur die Führer, auch grosse Teile der Bevölkerung, wahrscheinlich die Mehrheit der Ukrainer, seien demnach aktive oder passive Nazis.

Der Verfasser Timofey Sergeytsev argumentiert ganz auf der Linie eines Aleksandr Dugin. Es mag sein, dass Aleksandr Dugins Einfluss auf Putin nicht so gross ist, wie vielfach angenommen wird. Aber sie teilen dieselbe Ideologie von einem Russland, das eine Zivilisation bildet und im Westen keinen Nachbarn, sondern ein Gegenmodell, das für alles Schlechte auf dieser Welt steht.

Auch Sergeytsev hängt diesen Vorstellungen an. Er wiederholt die Lüge vom Genozid, spricht von extremer Grausamkeit auf ukrainischer Seite und wirft dieser Kriegsverbrechen vor. Nach einem russischen Sieg solle das Land komplett von Nazis gesäubert werden (Должна быть проведена тотальная люстрация). Da aber “wahrscheinlich” eine Mehrheit der Ukrainer aus Nazis bestehe, müsste es folglich zu einem Massenschlachten kommen.

Auch diejenigen, die er als “passive Nazis” bezeichnet, seien schuldig. Nach der grossen Säuberung solle dann der nächste Schritt kommen: Die Liquidierung der Ukraine, könne doch ein entnazifiziertes Land unmöglich souverän sein (В этом отношении денацифицируемая страна не может быть суверенна). Auch der Name “Ukraine” solle getilgt werden.

Sergeytsev glaubt, dass die Ukraine spätestens seit 1989, also vor mehr als dreissig Jahren, dem Nazismus anheimgefallen sei. Dabei sei der ukrainische Nazismus alles andere als eine milde Version des deutschen Nationalsozialismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie auch Dugin glaubt Sergeytsev, der kollektive Westen habe den ukrainischen Nazismus erdacht und grossgemacht.

Das ganze Land solle ent-ukrainisiert, die ethnische Identität, die nur eine künstliche sei, abgeschafft werden. Verantwortlich für diese falsche Identität macht Sergeytsev die Sowjets, die den künstlichen Ethnozentrismus als Herrschaftsinstrument benutzt haben. Dieser Ethnozentrismus sei nach dem Untergang der Sowjetunion aber nicht herrenlos geworden, sondern von den USA übernommen worden.

Die Ukraine als eigenständiger Staat neige zwangsläufig zum Nazismus, der Ukrainismus sei eine künstliche antirussische Konstruktion. Vielleicht, so mutmasst Sergeytsev, müsse es eine dauerhafte militärische Präsenz auf dem Gebiet der einstigen Ukraine geben, das nach einem russischen Sieg in die russische Zivilisation, die inhärent antifaschistisch sei, integriert werden. Die Komplizen des ukrainischen Naziregimes sollen mit Zwangsarbeit bestraft werden.

Sergeytsev ist gleichermassen gegen den Westen und gegen die Sowjetunion eingestellt, teilt aber den Antikapitalismus der Sowjets, indem er Russland als Gegenentwurf zum Kapitalismus sieht, dessen Früchte der Nationalstaat wie auch der Nazismus seien, der wiederum der Krise der westlichen Zivilisation entspringe.

Dieser Kommentar wird von der grössten staatlichen Nachrichtenagentur Russlands verbreitet und zeigt, welcher Ungeist in der russischen Führung herrscht, die Meinungsfreiheit extrem beschnitten hat. Der Westen sollte sich keinerlei Illusionen hingeben, was den vorgeblichen Friedenswillen von Putin und seiner Clique anbetrifft.


Nachtrag 5. April 2022

Jetzt auch noch Medwedew.

Nachtrag 8. April 2022

Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man lachen. Die Sprecherin des russischen Aussenministerium, Maria Zacharowa, begründet den Krieg damit, dass die Ukrainer auf ihren Borschtsch (Eintopf) stolz seien und ihn nach eigenen Rezepten zu kochen wagten, wo es doch nur einen Borschtsch der einen russischen Nation gebe – und deswegen sind die Ukrainer Nazis! Man fühlt sich an “Monty Python” erinnert.

Nachtrag 10. April 2022

Die deutsch-ukrainische Publizistin Marina Weisband, Mitglied der “Grünen”, kennt nach eigener Aussage die russische Propagandamaschinerie sehr gut. Im Interview mit n-tv sagt sie: “Es ist in den vergangenen Jahren völlig normal gewesen, abends in einer Talkshow zu diskutieren, wie man das Baltikum einnehmen könnte oder wie ein Atomkrieg ablaufen könnte.”

Nachtrag 7. Mai 2022

Die ehemalige Ukraine- und Russlandkorrespondentin Golineh Atai erzählt aus ihrer Zeit in Moskau, welche offen aggressive Stimmung gegen die Ukraine zu beobachten war.

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