Z – Ein Regime sucht sein Imperium

Vladimir Putin vergleicht sich seit neuestem mit Peter dem Grossen, was hierzulande manchen Spott hervorrief. Vor einiger Zeit war in einem rechtskonservativen Medium sogar zu lesen, die Haltung des Westens gegenüber Russland im Krieg gegen die Ukraine bedeute, die über Jahrhunderte erfolgte russische Annäherung an Europa seit Peter dem Grossen zunichte zu machen. Doch das mit der Annäherung ist so eine Sache.

Stamps of the Russian Empire“/ CC0 1.0

Der Soziologe Reinhard Bendix hat einst daran erinnert, dass Peter am Ende des 17. Jahrhunderts die Gesellschaft vor allem deshalb zu modernisieren versuchte, weil er hoffte, damit die Grundlagen für ein Anwachsen der Bevölkerung und damit ein erhöhtes Steueraufkommen zu schaffen. Die Bevölkerung wuchs zwar nicht, doch wurde die Steuerpolitik immer rigider, ohne dass weite Teile der Gesellschaft dagegen aufbegehrt hätten.

Offenbar weiss Putin, warum er sich auf Peter bezieht. „Dem Druck von oben“, resümiert Bendix, „hatte die Angst von unten entsprochen“. So richteten sich die Menschen in dieser Ordnung ein, wobei Bestechung und Steuerhinterziehung die Mittel ihrer Wahl wurden. Ohne die Staatsmacht im Grundsatz zu hinterfragen, untergrub man sie und stabilisierte sie zugleich. Offenbar ist das heute noch der Fall.

Jahrhundertelang, so Bendix, war dies die russische Art von Herrschaft, wobei Russland, unterstützt von der Russischen Kirche, meist auf Abgrenzung zu Europa bedacht war, seitdem es mit seinen Nachbarn über Jahrhunderte in kriegerische Auseinandersetzung verwickelt war. Gerade der Adel war in den westlichen und südlichen Grenzgebieten, der Ukraine, eng mit dem Staat verbunden und trug dessen Kriege mit.

„Dem Druck von oben hatte die Angst von unten entsprochen.“

Reinhard Bendix

Mündige Bürger, die dagegen aufbegehrt hätten, mussten ihnen daher ein Dorn im Auge sein und so stiessen die Bildungsreformen Katharinas II. auf den Widerstand nicht nur des Adels, sondern auch der Kaufleute und Handwerker. Die orthodoxe Frömmigkeit, die mit dem Sieg über Napoleon neuen Auftrieb erhalten hatte, verband sich mit einem Nationalismus, der nicht zuletzt gegen revolutionäre und nationale Bewegungen in Europa gerichtet war. Wie der Historiker Geoffrey Hosking urteilt, war Napoleon für das russische Nationalgefühl der ideale Antiheld.

So blieb der Autoritarismus in Russland darauf angewiesen, innere Spannungen dadurch abzumildern, dass man sich umso stärker von Europa abgrenzte. Nicht nur die sogenannten Slawophilen unter den Schriftstellern, die die Idee einer russischen Zivilisation propagierten, die alle slawischen Völker in sich vereinigen solle, auch sonstige Schriftsteller und Künstler des 19. Jahrhunderts hatten für angrenzende Kulturen, wie die Historikerin Anne Applebaum schreibt, nur Verachtung übrig.

Der Konstitutionalismus nach westlichem Vorbild war chancenlos, unter Nikolaus I. flossen viele Mittel in die Kriegsmacht, die dann im Krimkrieg (1854-6) zugrunde ging. Wie Bendix schreibt, hatte Russland, anders als Westeuropa oder Japan, keine Tradition der Machtvergabe auf lokaler Ebene. Zwar kam es nach dem Krimkrieg zu Reformen, doch blieb der Staatsapparat selbst für einen Zaren zu mächtig, um ihn sich dauerhaft gefügig zu machen.

Zaren, Bauern und Sowjetideologen gleichermassen waren der Ansicht, dass jegliche Organisation von Interessen unterhalb der Ebene der obersten Staatsführung eine Usurpation von Macht darstelle. Bis ins 20.. Jahrhundert hinein blieb Russland daher geprägt vom Typus der „plebiszitären Gesellschaft“, so Bendix, d.h. eine Einparteiendiktatur, die vorgibt, im Namen des Volkes zu herrschen.

Heute bilden die Oligarchen den Adel Russlands und existiert, so die Russland-Kennerin Sabine Fischer, heute noch immer ein vertikales Macht-System, das manche Informationen zu Putin durchzudringen verhindert. Fischer attestiert dem politischen System Russland einen kompletten Mangel an Korrektiven „auf allen Ebenen des politischen Entscheidungsprozesses.“ Warum also nicht das politische System reformieren?

„Um Russland zu einem wohlhabenden Land zu machen, im dem man ganz normal leben kann, müsste man das Imperium und seine Träume hinter sich lassen.“

Karl Schlögel

Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel verweist auf den Widerstand, den Rationalisierung und Modernisierung in Russland erfahren. Das ist nicht nur eine Frage der Organisation, so Schlögel, sondern bedarf eines entsprechenden Ethos, das in der Gesellschaft einfach nicht genügend verankert ist. Die Vorstellung, durch Arbeit aufzusteigen, war vor allem der Dorfgemeinschaft fremd, was angesichts der schwachen Urbanisierung des Landes bis heute schwer wiegt.

Die junge Generation, die digital mit dem Rest der Welt verbunden ist, mag zwar weniger anfällig für autoritäre und nationalistische Parolen sein, aber sie wird nichts im Land verändern, sondern eher auswandern wollen. Daher dürfte auch ein Russland nach Putin wahrscheinlich nicht so schnell demokratisch und rechtsstaatlich werden.

Der russische Schachweltmeister und im kroatischen Exil lebende Dissident Garri Kasparov warnt schon seit Jahren vor Putin, dem es nur um Geld gehe und dessen Regime er mit einem Mafiastaat vergleicht: „Solange der Boss Geld und Schutz verteilt, stehen die Leute hinter ihm. Sobald kein Geld mehr fließt, ist die Loyalität sofort dahin.“

Alexey Sakhnin, ein weiterer Dissident, schlägt in dieselbe Kerbe. Er identifiziert Putins Russland als eine Kastengesellschaft, in der Einfluss und Wohlstand vererbt werden, während wirtschaftliches Wachstum auf der Strecke bleibt. Versuche, Russland wenigstens nach Vorbild des ebenfalls autoritären, aber prosperierenden China umgestalten, seien am Staatsapparat gescheitert, deren Loyalität erkauft wird.

Moscow, Russia“/ CC0 1.0

Somit basiert der Wohlstand wesentlich auf dem Export von Rohstoffen, der, wo opportun, als Waffe benutzt wird. Wie rücksichtslos Putin mit der Ukraine umzugehen gewillt ist, zeigte sich schon 2009, als er dem Nachbarn die Gaszufuhr abdrehte, nachdem die Ukrainer es gewagt hatten, den pro-westlichen Viktor Janukowitsch zu ihrem Ministerpräsidenten zu wählen. Janukowitsch wurde vergiftet und die Ukrainer durften einen eiskalten Winter verbringen, wie der Journalist Michael Totten notierte.

Natürlich fallen einem gleich Parallelen zu Stalins Massnahmen gegenüber der Ukraine ein und in der Tat hat Putin sich lobend über Stalin geäussert, soweit es dessen Wahrnehmung der äusseren Bedrohungen geht. Auch Schlögel sieht die Verhältnisse innerhalb Russlands mit dessen imperialer Geschichte verwoben und resümiert: „Um Russland zu einem wohlhabenden Land zu machen, im dem man ganz normal leben kann, müsste man das Imperium und seine Träume hinter sich lassen.“

Man sollte sich im klaren darüber sein, womit man es zu tun hat, wenn man von Russland unter Putin spricht. Ein propagandistischer Kommentar des russischen Staatsmediums RIA Novosti bringt es auf den Punkt: Die alte, regelbasierte Weltordnung sei im Sterben begriffen, Russland stehe für eine neue Weltordnung, die Ukraine ist nur Kollateralschaden.


Nachtrag 14. Juni 2022

Die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies kritisiert im Interview mit n-tv alle Versuche, Putins Krieg zu rationalisieren und sagt: „Ich würde deshalb durchaus ernst nehmen, was er über Peter den Großen sagt: Er misst sich an der imperialen Größe Russlands des 18. und 19. Jahrhunderts.

Nachtrag 10. September 2022

Der Wiener Osteuropahistoriker Oliver J. Schmitt präsentiert in der NZZ einen Abriss der schwierigen und konfliktreichen Geschichte zwischen den Ostseemächten und Russland und erklärt, welche Spuren die russische Expansion seit Jahrhunderten dort im kollektiven Gedächtnis hinterlassen hat. Er weist darauf hin, dass Russland im Gegensatz zu den Ostseemächten immer wesentliche politische Fortschritte vermissen liess: „Polen-Litauen entwickelte sich im 17. Jahrhundert zu einer Adelsrepublik (…). Auch der schwedische Riksdag gehört zu den alteuropäischen Ständeeinrichtungen, mit denen die Macht des Monarchen begrenzt wurde. All das kannte Russland nicht, wo der Zar von informellen Einflussgruppen (…) umgeben war, jedoch keinem selbstbewussten Adelsparlament gegenüberstand.“

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