Heinrich August Winkler: Die Deutschen und die Revolution

Dass Deutschland keine Revolution kannte und damit hinter Ländern wie England, den Vereinigten Staaten oder Frankreich zurückblieb, ist ein überkommenes Geschichtsbild, das schon seit längerem von Historikern hinterfragt wird. Denn ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Die Revolution von 1848 mag gescheitert sein, doch blieb sie nicht ohne Wirkung. Hat es in Deutschland aber überhaupt so etwa wie eine Revolution gegeben?

Zu den Errungenschaften der gescheiterten Revolution von 1848 gehört vor allem die Durchsetzzung des Verfassungsprinzips, worauf schon die Historiker Dieter Hein (2004) und jüngst Alexandra Bleyer (2022) hingewiesen haben. Der Historiker Heinrich August Winkler ist nun in einem kleinen, aber kenntnisreichen Büchlein der Frage nachgegangen, wie es die Deutschen insgesamt mit der Revolution halten, wobei er gute Gründe geltend macht, warum zumindest Frankreich kein Vorbild sein konnte.

Denn die grosse Französische Revolution von 1789 galt deutschen Liberalen nicht als leuchtendes Vorbild, sondern als abschreckendes Beispiel einer entgleisten Revolution. Dabei wird häufig +bersehen, dass auch in Frankreich die Verwirklichung von Rechtsstaat und Demokratie samt Überwindung der Monarchie ein weitaus längerer Prozess war, zu dem noch zwei weitere Revolutionen gehörten, nämlich die von 1830 und die von 1848. In Deutschland (Deutscher Bund) aber musste die Revolution von 1848, so die Historikerin Alexandra Bleyer, nicht aus Frankreich importiert werden, sie war schon vorher da. 

Ab 1848/49 gab es nur noch Revolutionen von oben

Zu nennen ist hier vor allem der Protest der sogenannten “Göttinger Sieben” hatten, die am 18. November 1837 gegen den Verfassungsstreich des hannoverschen Königs protestierten. Dabei handelte es sich um Professoren der Universität, die ihr Eintreten für die Verfassung mit ihrer Relegation bezahlten, damit aber eine gesamtdeutsche Öffentlichkeit für die Ideale von freiheitlicher Verfassung und nationaler Einheit mobilisierten. Dies ist Teil des vom Politologen Wilhelm Bleek nachgezeichneten Vormärz, und dessen politischem, kulturellen und wirtschaftlichen Aufbruch.

Womit wir wieder bei Winkler wären: Den zu einer demokratischen Revolution kam es deshalb nicht, weil diese zunächst der Vereinigung bedurfte und auch nur als kleindeutscher Nationalstaat gegen Preussen, Österreich und Russland hätte durchgesetzt werden müssen, wovor die deutschen Liberalen im Frühjahr 1849 Abstand nahmen. Die politische Linke zeigte sich zwar weitaus kampfbereiter als die Rechte, aber ihr Ansinnen galt einem Krieg gegen das reaktionäre Russland, wobei sich ein Friedrich Engels 1848 sogar verächtlich über die Südslawen äusserte und prophezeite, der nächste Weltkrieg werde “nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden lassen.“

„Kabinettsfotografi – Otto von Bismarck, Berlin“/ CC0 1.0

Die soziale Verbesserung der Massen war damals keinswegs Alleinstellungsmerkmal der Linken, auch von Konservativen wurde sie gefordert, die sie jedoch als Reform von oben zu verwirklichen suchten. Winkler weist darauf hin, dass es nach 1848/49 in ganz Europa nur noch zu Revolutionen von oben gab und Deutschland keinen Sonderweg beschritt, als Bismarck mit seiner Ernennung vom preussischen Ministerpräsidenten 1862 daranging, dieses Vorhaben umzusetzen. Unter Bismarck sollte es aber noch eine zweite Revolution von oben geben, die viele gar nicht als solche auf dem Radarschirm haben, nämlich die Schlacht von Königgrätz.

Wie gross war die deutsche Revolution von 1866?

Es war Jacob Burckhardt, der die Schlacht „die große deutsche Revolution von 1866“ nannte , als Preussen seine Hegemonie gegen Österreich, die Präsidialmacht des Deutschen Bundes, durchsetzte. Aus dem Verlierer Österreich wurde Österreich-Ungarn. Vor allem in Süddeutschland wurde dies als Ende der tausendjährigen, bis auf Karl den Grossen zurückgehende Reichsidee betrauert, während die Schlacht dem Protestantismus in Deutschland zu einer Vormachtstellung verhalf. Bismarck selbst sprach vom „evangelischen Kaisertum“, unter dessen Ägide er seinem Kulturkampf führte.

Dieser richtete sich gegen zwei “Reichsfeinde”: Den katholischen Klerus, der er verdächtigte, die polnische Nationalbewegung zu unterstützen, und die Sozialdemokraten. Aussenpolitisch wandte sich Bismarck gegen den Freihandel und griff zum Mittel des Protektionismus, was ihn zu einem Antiliberalen macht (weswegen es seltsam anmutet, dass vor vielen Jahren ein FDP-Vorsitzender in seinem Büro ein Bismarck-Bild hängen hatte) und Unterstützung von einer Achse zwischen „Rittergut und Hochofen“ genoss, die über das Ende des Kaiserreichs hinaus die deutsche Politik prägen sollte.

Unter Bismarck aber wurde auch das Adjektiv „national“ mit einer antiliberalen, antiinternationalistischen und häufig auch antisemitischen Bedeutung aufgeladen, nachdem es lange Zeit anz im Gegenteil mit dem Kampf des liberalen Bürgertums gegen feudale Zersplitterung und Obrigkeitsstaat verknüpft gewesen war. Man wollte endlich Weltmacht sein, im Kreis der grossen Mächte mitspielen, und machte sich Deutschland unter Bismarck daran, Kolonialmacht zu werden. Als Bismarck gegangen war, kam es zum Aufbau einer Flotte, aber natürlich mussten sich die Beziehungen mit den anderen europäischen Mächen verschlechtern.

Die nationale Kriegsbegeisterung ging einher mit einem Gefühl der Isolation, der Einkreisung, infolgedessen der Nationalismus erstarkte, denn Nationalismus führt meist zu noch mehr Nationalismus. Aber auch die Sozialdemokratie profitierte, das Land war tief gespalten. Die Einkreisung, darauf hat schon Sebastian Haffner (1981) hingewiesen, war freilich eine selbst verursachte. Getrieben von einem Verlangen nach “Macht um der Macht willen, Herrschaft um der Herrschaft willen”, so Haffner, und gepaart mit einem Gefühl, im europäischen Mächtekonzert zu kurz gekommen zu sein, steuerte man auf die Katastrophe zu.

Die belastete Revolution von 1918/19

Der erste Weltkrieg geht zwar nicht allein, aber doch hauptsächlich auf Deutschlands Konto, resümiert Winkler, der damit die ältere Forschung bestätigt und sich gegen den hierzulande populären Christopher Clark stellt Clark: („But the Germans were not the only imperialists and not the only so succumb to paranoia. The crisis that brought war in 1914 was the fruit of a shared political culture.“) Als die Niederlage unausweichlich wurde, ersann General Ludendorff, von der Obersten Heeresleitung einen perfiden Plan vor, den er Wilhelm II. vorlegte.

Indem er den friedenswilligen Mehrheitsparteien die Verantwortung für die Niederlage aufbürdete (“Dolchstosslegende”), sollten sie die Konsequenz ziehen und einen Frieden aushandeln. Damit war die Regierung Max von Badens, die erste parlamentarische Regierung des Kaiserreichs, mit dem Makel behaftet, gegen deutsche Interessen entstanden zu sein – eine Lüge, die es den Nationalisten leicht machte, sie in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Die Spannungen zwischen der Regierung und der militärischen Führung führten am 9. November zur Absetzung Wilhelms II. und zur Ausrufung der Republik.

„Kaiser Wilhelm II, c1891 Sept“ von Library of Congress/ CC0 1.0

Das hat ohne Zweifel den Charakter einer Revolution von oben, während die Kräfte der Beharrung nun auf ihre Chance warteten. Eine Revolution im Sinne einer völligen Umkehrung der Verhältnisse war es freilich nicht und konnte es wohl auch nicht sein. Winkler argumentiert mit Eduard Bernstein, dem sozialdemokratischen Realisten, dass der deutsche Verwaltungsstaat zu entwickelt war, um eine Revolution noch sinnvoll erscheinen zu lassen. Die Bedingungen waren ganz andere als im England des 17. Jahrhundert, in Amerika 1775/76, in Frankreich 1789 oder Russland 1917, in denen vorindustrielle und vordemokratische Verhältnisse herrschten. Winkler macht sich im Verlaufe des Buches diese Ansicht mehrfach zu eigen.

Mit dem Kriegsende und der bedingungslosen Übernahme der Kriegsschuld im Friedensvertrag von Versailler am 28. Juni 1919 kam es infolge des gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsches (März 1920 ) der monarchistischen Rechten, unterstützt von Adel und Beamtenschaft des ostelbischen Preussen und gefolgt von einem Blutbad am Brandenburger Tor, zu einer neuen politischen Konstellation: Während Bayern einen Rechtsruck erlebte, wurde das einst so repressive Preussen unter dem Sozialdemokraten Otto Braun zu einem tragenden Pfeiler der Republik.

Von der Konservativen Revolution zur braunen Diktatur

Mit dem Ruhrkrieg 1920 endete die Revolution von 1918/19, der krisenhafte Zustand freilich blieb, auch wenn die Siegermächte Deutschland in Sachen Reparationsforderungen entgegenkamen. Ein radikaler Nationalismus, mehr noch als das Bedienen antisemitischer Ressentiments, führte dann zum Aufstieg der NSDAP, die in den frühen zwanziger Jahren im Gefolge der Konservativen Revolution entstanden war und deren Weltsicht übernahm, dass Deutschland etwas anderes und mehr sei als ein Nationalstaat, sondern eine europäische Ordnungsmacht.

Zwar schafften es die Sozialdemokraten unter Otto Braun zunächst, Hitlers Ernennung zum Reichspräsidenten zu verhindern, indem sie das Minderheitskabinett Brüning (Zentrum) tolerierten, stützen damit aber auch dessen verhasste Sparpolitik und machten es der NSDAP und der KPD leichte die Massen zu mobilisieren. Der preussische Ministerpräsident Braun hatte bis 1930, dem Beginn der sog. Präsidialkabinette, versucht, Preussens Gewicht in die innerdeutsche Waagschale zugunsten der Demokratie zu werfen – doch vergeblich.

Beide Parteien zusammen, NSDAP und KPD, vereinigten bei den Reichstagswahlen im Juli und November 1932 eine Mehrheit auf sich und damit eine gegen die Demokratie. Hitler und seine NSDAP sind allerdings weder durch demokratische Wahlen, noch durch einen Putsch an die Macht gekommen, sondern durch eine seltsame Wendung der Geschichte. Denn es war Franz von Papen, der kurzzeitige Reichskanzler, der Heinrich Brüning (Zentrumspartei) ablöste und Hindenburg davon überzeugte, ihn selbst durch Hitler zu ersetzen, den er kontrollieren zu können glaubte.

Als Hindenburg 1933 darauf einging, tat es dies ohne Not und noch nicht einmal aus Sympathie für Hitler, den er verachtete. Eine “Machtergreifung”, von der die Nazis später sprechen sollten, hat es nie gegeben, er ist ein von ihnen geschaffener Mythos. Haffner (2001) bevorzugt den Ausdruck “Palastintrige”, denn der erzautoritäre von Papen glaubte, dass Hitlers Gestaltungsrahmen allein von der Demokratie gestellt werde und wenn diese erst abgeschafft sei, werde jener beschnitten, weshalb Hitler froh sein könne, wenn er dann nur irgendwie an der Macht beteiligt werde.

Stattdessen folgte eine Phase der Repression und dem, was die Nationalsozialisten die „nationale Revolution“ nannten, also noch mehr Repression und die Beseitigung der letzten Reste der Demokratie durch das Ermächtigungsgesetz, mit dem Hitler sich zum Reichpräsidenten und Reichskanzler in einer Person machte. Der Revolution von oben stiess jedoch von Anfang an auf wenig Widerstand – selbst als es noch möglich gewesen wäre, gegen Hitler vorzugehen. Das Hakenkreuz, notiert Haffner (2000), ist in die deutsche Masse “hineingeprägt worden” “wie in einen formlos-nachgiebigen, breiigen Teig.“

Dabei waren Haffner (1978) zufolge die einzigen innenpolitischen Gegner, die Hitler 1930 bis 1934 ernsthaft zu schaffen machten, die (wenngleich antidemokratischen) Konservativen. Zu einem ähnlichen Urteil gelangte der Antisemitismusforscher Robert Wistrich: Indem es den Konservativen primär um die wirtschaftliche Gesundung Deutschlands ging, verlangten sie von Hitler, “dass er den Radikalen unter seinen Anhängern Zügel anlege, dass er dafür sorge, dass auch die Nationalsozialisten die Spielregeln von Gesetz, Ordnung und bürgerlicher Moral einhielten”, so Wistrich.

Damit unterschätzten sie den Machthunger Hitlers wie auch dessen Grössenwahn. Winkler weist weist darauf hin, dass der Nationalsozialismus von seinem Wesen her gar nicht friedensfähig war, nicht sein konnte. Krieg war für ihn Selbstzweck und Daseinsgrun,, worin sich das Dritte Reich von der Sowjetunion unterschied, in der eine Politik der friedlichen Koexistenz durchaus vereinbar war mit der Doktrin Lenins. Damit war “Hitlers Projekt”, so Winkler, “die radikalste Erscheinungsform der ‘Revolution von rechts’.”

War der Fall der Mauer eine Revolution?

In gewisser Weise bedeutete auch der Untergang des Nazi-Regimes eine Revolution, als sich ein Teil der Deutschen plötzlich in Demokratie und Freiheit wiederfand, ein anderer Teil in einer sozialistischen Diktatur, der DDR, in jedem Falle also in radikal geänderten Verhältnissen. Winkler konzentriert sich jedoch darauf, vor allem den Untergang der DDR unter dem Aspekt der Revolution zu untersuchen, wobei das besondere an jener vor allem der Umstand war, dass es nicht zugleich ein Nationalstaat war.

Die DDR, so Winkler, war der Ideologiestaat innerhalb des Ostblocks schlechthin, weswegen seine Funktionäre sich kategorisch der spätsowjetischen Politik von Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umbau) verweigerten. Entgegen einem gängigen Muster der Geschichte führte die massenhafte Flucht aus der DDR aber keineswegs dazu, dass im Inneren der Druck aus dem Kessel wich, vielmehr wurden die Proteste dort immer heftiger. Die Mauer hatte ihren Zweck zuletzt nicht mehr erfüllt, als man sie als Symbol der Repression schleifte.

Auch mehr als dreissig Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es soziale und mentale Unterschiede zwischen Ost und West. Noch immer ist das Land nicht vollständig zusammengewachsen. Winkler verweist auf Umfragen, die kurz vor der Wiedervereinigung gemacht wurden und die zeigten, dass von westdeutscher Seite die DDR überwiegend als Ausland und nicht länger als Teil Deutschlands wahrgenommen wurde.

Bücher aus der Zeit der Wiedervereinigung.

Vor allem bei den westdeutschen Parteien Grüne und SPD war eine Wiedervereinigung damals eher verpönt gewesen, während er auf ostdeutscher Seite ungleich grösser war. Die Revolution war keine gesamtdeutsche. Letztlich ist dieser Ost-West-Unterschied aber nur eine Fussnote der Geschichte. Wichtiger ist die Frage, wie Deutschland im europäischen Vergleich dasteht, wenn es um den sozialen Fortschritt und die Rolle von Revolutionen geht.

Deutschland und der Westen – Revolutionen im Vergleich

Damit gehen wir noch einmal zurück in der Zeit: In einem abschliessenden Kapitel rollt Winkler eingangs nur kurz gestreifte Aspekte der Geschichte auf: Denn auch Frankreich wurde erst nach der Februarrevolution von 1848 eine demokratische Republik und dies auch nur für kurze Zeit, bevor es nach dem Sturz Napoleons III. im September 1870 zu einer längeren republikanischen Phase kam, das Land aber erst im späten 19. Jahrhundert liberal und laizistisch wurde.

Winkler hätte an dieser Stelle Friedrich A. von Hayek zitieren können, der als Ökonom bekanntgeworden ist, aber eben auch Jurist war, und der präzise nachgezeichnet hat, wie die Kodifikation des Privatrechts 1751 in Preussen “jene Bewegung für die Kodifikation allen Rechts einleitete, die sich dann rasch ausbreitete und ihre bekanntesten Ergebnisse in den Napoleonischen Kodifikationen von 1800 bis 1810 erreichte.” Dazu noch einmal Haffner: Preussen war „in der Kodiifkation des bürgerlichen Rechts, dem ersten großen Schritt zur Verwirklichung des Rechtsstaatsgedankens, Frankreich immerhin um zehn Jahre voraus‟.

„Portrait of Friedrich Wilhelm, Elector of Brandenburg, and his Wife Louise Henriette, Countess of Orange-Nassau“/ pdm 1.0

Schon am Anfang preussischer Geschichter, unter Friedrich Wilhelm, dem Grossen Kurfürsten, hatte es Versuche gegeben, Staat und Gesellschaft zu reformieren, sie scheiterten jedoch an der Schwäche Preussens in einem ungeeinten Deutschland.. Oblgeich der Grosse Kurfürst erfolgeich darin war, das Fundament für ein modernes Preussen zu legen, vermochte er es nicht, den deutschen Flickenteppich zu einem einheitlichen Gebilde zusammenzufügen.

Andere, fortschrittlichere Nationen waren ebenfalls zerrissen, wenngleich auf unterschiedliche Weise. Winkler erinnert daran, dass sich in den USA die Verfassungswirklichkeit lange vom Verfassungsrecht unterschied, insofern als die Sklaven de jure und lange Zeit noch ihre Nachfahren de facto von Wahlen ausgeschlossen blieben. Das Frauenwahlrecht wurde in der Union erst 1920 eingeführt. Die Ideale der Aufklärung, obwohl früh formuliert, mussten im Streiten über die Verfassung vielfach erst noch in der Praxis erkämpft werden.

In England wiederum hatte die Glorious Revolution von 1688 einen enormen Modernisierungsschub ausgelöst, das Land blieb gleichwohl lange Zeit noch eine parlamentarische Plutokratie. Das allgemeine gleiche Wahlrecht wurde erst während des 1. Weltkriegs 1916 und zunächst nur für Männer eingeführt. Frauen durften seit 1916 unter Auflagen wählen, eine echte Gleichstellung mit den Männern erfolgte jedoch erst 1928, in Frankreich sogar erst 1944.

Beharrung und Fortschritt in Deutschland

Im Norddeutschen Bund dagegen existierte das allgemeine gleiche Wahlrecht schon seit dessen Entstehung 1867; der erste souveräne europäische Staat, der 1918 das allgemeine gleiche Wahlrecht für Frauen ermöglichte war tatsächlich – Deutschland. Allem Autoritarismus zzum Trotz hat das Land eben auch eine bis auf das Mittelalter zurückgehende Freiheitsidee vorzuweisen, als es im Heiligen Römischen Reich faktisch vom Kaiser unabhängig und damit in der Lage war, auf lokale Bedürfnisse stärker einzugehen.

Deutschland hat lange vor seiner Einigung demokratisches Potential aufgebaut, der Weg in den Abgrund des Dritten Reiches war keineswegs unvermeidlich. Letztlich ist es dabei unerheblich, ob sozialer Fortschritt auf dem Wege der Revolution erreicht wird oder nicht. Warum Deutschland dennoch niemals eine grosse Revolution wie England, Amerika oder Frankreich hervorgebracht hat, bleibt dennoch eine spannende Frage. Winkler bietet hierfür zwei mögliche Erklärungen an:

„skolplansch, historia, bilder, school wallchart, wallchart, Musketerare och kyrassier från 30-åriga kriget, Taflor ur allmänna historien, General History Wallcharts, Musketeer and cuirassier from the Thirty Year War“/ pdm 1.0

Die eine ist die erwähnte von Eduard Bernstein, die er mehrfach wiederholt und sich zu eigen macht. Die andere wird von ihm zweimal kurz erwähnt: Die im Dreissigjährigen Krieg wurzelnde Angst der Deutschen vor Chaos nämlich. Es ist bedauerlich, dass Winkler nicht näher darauf eingeht; welcher Faktor der wirkmächtigere gewesen sein könnte – die äusseren Umstände oder die Mentalität –, darüber hätte man als Leser gerne ein wenig mehr erfahren.

Überhaupt ist die Darstellung überaus kompakt und hat sich der Autor auf die wichtigste jüngere Fachliteratur beschränkt, während die verwendeten Primärquellen sehr überschaubar sind. Bei einem Buch von unter zweihundert Seiten ist das aber nicht zu bemängeln. Hier geht es darum, eine interessierte Öffentlichkeit darüber ins Bild zu setzen, wie es im Lichte der Forschung um das Thema Revolution in der deutschen Geschichte bestellt ist.

Das ist dem Autor ganz hervorragend gelungen, zumal er es sich nicht leicht macht und sogar hier und dort Kontroversen streift, die Teil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses sind. So bietet das Buch jede Menge Stoff zum Nachdenken und Weiterdenken.

Heinrich August Winkler, Die Deutschen und die Revolution: Eine Geschichte von 1848 bis 1989. München: C.H. Beck, 2023. 176 Seiten, € 24,00.


Literatur

Wilhelm Bleek, 2020. Vormärz: Deutschlands Aufbruch in die Moderne 1815-1848. München : C.H. Beck.

Alexandra Bleyer, 2022. 1848 – Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution. Bonn: bpb.

Christopher Clark, 2013. Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914. London: Penguin.

Gordon A. Craig, 1985. Das Ende Preussens: Acht Porträts. München: C.H. Beck.

Sebastian Haffner, 1981. Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg. Bergisch Gladbach: Lübbe.

Ders., 1987. Anmerkungen zu Hitler. München: Kindler.

Ders., 1998. Preußen ohne Legende. Hamburg: Siedler.

Ders., 2000. Geschichte eines Deutschen: Die Erinnerungen 1914-1933. München: DVA.

Ders., 2001. Historische Variationen. München: DVA.

Friedrich A. von Hayek, 2005. Die Verfassung der Freiheit, hrsg. von Alfred Bosch und Reinhold Veit. Tübingen: Mohr Siebeck.

Dieter Hein, 2004. Die Revolution von 1848/49. München: C.H. Beck.

Heinz Schilling, 2020. Karl V. – Der Kaiser, dem die Welt zerbrach. München: C.H. Beck.

Robert A. Wistrich, 2015. Der antisemitische Wahn: Von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel. Berlin: Edition Critic.

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