Dass im Libanon Mein Kampf und Die Protokolle der Weisen von Zion in fast jedem kleineren Buchladen zu kaufen sind, dass in vielen Stadt- und Landesteilen Porträts von Khomeini und Khamenei oder Slogans wie „Die Waffe ist der Schmuck des Mannes“, „Die Waffen sind unser aller Entscheidung“ und „Israel ist ein Krebsgeschwür“ auf zahlreichen grossen Plakaten hängen und dass selbst in der als prowestlich verschrieenen Presse antiwestliche und antiisraelische Klischees Legion sind, ist bekannt. Dennoch trifft man hier immer wieder sehr klarsichtige Menschen. Es dauert nur oft lange, bis man soweit miteinander warm geworden ist, dass man über bestimmte Themen sprechen kann.
Neulich habe ich durch meine Vermieterin einen jungen Mann kennengelernt, der mir für mein Forschungsprojekt Interviews transkribiert und den wir hier Ali nennen wollen. Ali ist Student an der Libanesischen Universität, der einzigen staatlichen in diesem Land. Er ist Schiit aus Hermel, einer ausschliesslich schiitisch bewohnten Gegend direkt an der syrischen Grenze.
Dort, so erzählt mir Ali, hat die sogenannte Partei Gottes (arab.: Hisbollah), das Sagen. Sie bestimmt, wer Jobs bekommt und wer nicht, wacht über die Tugend und darüber, dass niemand, auch die staatlichen Behörden nicht, den Haschischbauern in die Quere kommen, die dort ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor sind.
Als ich Ali heute treffe, um ihm eine weitere Interviewaufnahme zu übergeben, erzählt er mir, dass sich seine Mutter und weitere Verwandte in seiner Studentenbude in Beirut einquartiert haben, weil in Hermel in den letzten Tagen verstärkt Raketen der Freien Syrischen Armee einschlagen.
Die Hisbollah nimmt keine Rücksicht auf Zivilisten – Israel schon
Die Hisbollah, so erzählt er weiter, hält das benachbarte Grenzgebiet auf der syrischen Seite besetzt und bekämpft dort die FSA, angeblich um Hermel zu verteidigen. Aber das hält Ali für eine Lüge. Tatsächlich wolle die Hisbollah das Baath-Regime in Syrien retten.
Das Problem ist, dass weder die FSA noch die Hisbollah besondere Rücksicht auf Zivilisten nehmen, sondern ihre Raketen ziemlich willkürlich abfeuern. Wahrscheinlich sind die Waffen auch nicht präzise genug. Jedenfalls geht Ali davon aus, dass die Raketen der FSA eigentlich nicht für Hermel bestimmt sind, sondern den Besatzern auf der syrischen Seite gelten.
Während des Juli-Krieges 2006, erzählt Ali zu meinem Erstaunen und entgegen der weltweit dramatischen Presse jener Zeit, musste man keine Angst haben getroffen zu werden. Die Israelis hätten nur die Zentren der Hizbollah beschossen. In Hermel, berichtet er, gab es so ein Zentrum bestehend aus einem kleinen Gebäude, das zwischen zwei hohen Häusern lag. Die Israelis haben das Zentrum aus der Luft zerstört, ohne dass in der Umgebung jemand zu Schaden kam.
Zurzeit, so Ali, sei die radikal-islamische Nusra-Front noch nicht bis in die Grenzregion zum Libanon vorgerückt, sondern diese wird von der FSA dominiert. Wenn es dazu aber kommen sollte, so Ali, werde es sicher sehr viel schlimmer werden, weil die Nusra-Front überhaupt keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Zivilbevölkerung mache. Für sie sind alle Schiiten Ungläubige. Die Nusra-Front und die Hisbollah hätten in etwa die gleiche Geisteshaltung, nur dass die einen eben Sunniten und die anderen Schiiten seien. Ali hält sie alle für Faschisten.
Wenn Ultralinke mit den Ajatollahs paktieren
Die längste Zeit seines Lebens war Ali Kommunist, wie viele der Bewohner von Hermel. Aber diese Ideen hält er für tot. Schliesslich haben sie bisher keinerlei Erfolgsstory vorzuweisen. Dennoch nimmt Ali mich mit in eine Kneipe, wo sich die Ultralinken des Libanon treffen und wo auch er bis vor ein paar Jahren häufig verkehrte. Der Aussenbereich, wo wir Platz nehmen, wird von einem grossen Portrait von Hugo Chavez dominiert.
Erst setzt Ali sich mit dem Gesicht in dessen Richtung. Dann setzt er sich um und erklärt mir, dass er Chavez nicht ausstehen könne, weil dieser mit den Diktatoren in der Region paktiert habe: dem Assad-Regime und den Ajatollahs. Seine Ex-Genossen hält er für Heuchler, weil sie viel von Revolution quatschten, für die Revolution bei ihnen um die Ecke aber nur Verachtung übrig hätten.
Mittlerweile denkt Ali manchmal, dass vielleicht die maronitisch dominierte Kataeb-Partei recht habe mit ihrer Haltung, die libanesische Politik solle sich auf das eigene Land konzentrieren und sich nicht für palästinensische oder syrische Interessen aufreiben. Er selbst war zunächst begeistert von der revolutionären Bewegung in Syrien. Heute will er mit Politik am liebsten gar nichts mehr zu tun haben. Schade eigentlich, wenn auch sehr verständlich.