Solange „die Vorstellung des Nationalstaats unser Denken prägt“ – ja, was dann? Im Interview zeigt die grossartige Judith Butler, dass sie wieder einmal nichts verstanden hat. Nach einer Kaskade von Gemeinplätzen kommt Judith Butler zur Sache, wobei das Lamento über den unheilvollen Charakter des Nationalstaates auch nur wieder ein alter Hut ist:
„Wir können uns hier an Hannah Arendt orientieren: Solange die Vorstellung des Nationalstaats unser Denken prägt, bedeutet das, dass eine bestimmte Nationalität den Staat repräsentiert und der Staat eine bestimmte Nationalität. Das heißt, es wird immer Minderheiten und Ausgegrenzte geben, die nicht zum dominanten Konzept von Nationalstaat gehören: Sie werden keine vollen Rechte bekommen oder sie werden entrechtet oder sogar aus dem Land vertrieben. Darum ist Pluralität so wichtig. Ich würde Pluralität in ethnische Heterogenität übersetzen. Europa ist schon heterogen, es ist das neue Europa.“
Wen der Nationalstaat ausgrenzt, hängt natürlich an der Frage, welchem Verständnis von Staatsangehörigkeit er folgt, ob er sie also an die Herkunft bindet oder einen offenen Zugang bietet, der jedem Zuwanderer unter Bedingungen, die mehr oder minder leicht zu erfüllen sind, den Erwerb der Staatsangehörigkeit ermöglicht. Auf Deutschland bezogen heisst das zugespitzt: Früher, nämlich vor der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 2000, konnte man Deutscher nur sein. Seitdem kann man es auch werden.
Das ist ein Fortschritt, der seinerzeit schon längst überfällig war, in Butlers Geisteswelt aber nicht vorkommt, was umso erstaunlicher ist, als doch die angelsächsische Welt in dieser Hinsicht Deutschland immer einige Schritte voraus war. Schon im frühen 18. Jahrhundert hatte der Dritte Earl of Shaftesbury in seinem Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (London 1711, vol I, S. 89-90) den Begriff der Nation wie folgt definiert:
„Absolute Power annuls the public; and where there is no public, or constitution, there is in reality no mother-Country or Nation.“
Shaftesbury hilft uns zu verstehen, warum selbst ein Donald Trump es nicht schaffen wird, die USA in eine Diktator zu verwandeln und alle Vergleiche mit Erdogan & Co zum Scheitern verurteilt sind: Weil die USA eine Nation sind, in der die freie Meinungsäusserung nicht nur von der Verfassung geschützt, sondern integraler Bestandteil der politischen Kultur ist, seitdem die Verfassung selbst schon als publizistisches Streitobjekt – man denke an die Federalist Papers – ihren Ausgang genommen hat. Trump, gewiss kein Freund der freien Meinungsäusserung, wird daran nichts ändern können.
Gleichbedeutend mit Öffentlichkeit und im Gegensatz zur absoluten Macht stehend, zeigt Shaftesburys Konzept, wie sehr der Begriff der Nation, mag man dieser auch ein Konfliktpotential nicht absprechen, gerade im angelsächsischen Kontext mit emanzipatorischen Absichten verbunden war und wohl nicht zufällig wird der Nationalstaat heute gerade von solchen Zeitgenossen verworfen, die auch die Demokratie am liebsten in eine Art von aufgeklärter Erziehungsdiktatur verwandelt sähen.