„Der Islam, die Regierung und das Volk sind wie das Zelt, die Stange, die Schnüre und die Pflöcke.‟ (Kaʿb ibn al-Aḥbār, überliefert von Ibn Qutaiba, 828-889)
Hatten Islam-Apologeten lange Zeit insistiert, es sei nur ein westliches Vorurteil und die islamische Geschichte nach dem Tode des Propheten sei faktisch säkular gewesen, Staat und Religion getrennt. Das ist die eine Linie der Islam-Apologetik: Alle Errungenschaften, die sich Europa auf die Fahnen schreibt, müssen auch im Islam vorhanden sein und wer das nicht akzeptieren will, ist islamophob.
Im Rahmen dieser Argumentation wird behauptet, dass die populäre Formel, der Islam sei Religion und Staat (dīn wa-dawla) schon deshalb unzutreffend sei, weil sie aus dem 19. Jahrhundert stamme, folglich selbst ein Produkt der Moderne sei. So glaubt der Erfurter Islamwissenschaftler Kai Hafez, dass in der Geschichte die politischen Systeme der islamischen Welt „einen nahezu säkularen Charakter“ trugen, worin sie sich von den Staaten des Abendlandes nicht unterschieden.
Auch der Arabist Thomas Bauer (Münster) behauptet, im Islam seien daher Religion und Staat tausend Jahre lang durchaus getrennt gewesen, wenn auch nicht komplett. Die Formel vom Islam als din wa-dawla (Religion und Staat in einem), so sein Einwand, sei schon aus sprachlicher Sicht als moderne Bezeichnung erkennbar, laute die klassische Bedeutung von dawla doch nicht „Staat‟, sondern „Herrschaftszeit‟ oder „Dynastie‟ und werde der Begriff erst im späten 19. Jahrhundert im Sinne von „Staat‟ benutzt.
Bauer blendet die Möglichkeit aus, es auch Phänomene avant la lettre gibt und dass man den slamischen Quellen entnehmen kann, dass die Religion des Islam seit jeher als umfassende gesellschaftliche Ordnung verstanden wurde. Noch Annemarie Schimmel, der man eine besonders kritische Haltung gegenüber dem Islam gewiss nicht nachsagen konnte, hatte beim Anblick der Badshahi Moschee im pakistanischen Lahore, die 1689 von Aurangzeb vollendet wurde und mit der gegenüberliegenden Festung eine Einheit bildet, ganz selbstverständlich die Ansicht vertreten, dass beide das islamische Ideal der Einheit Religion und Staat zu symbolisieren schienen.
Aber dann gibt es noch die andere Linie islamapologetischer Argumentation. Diese lautet: Im Islam haben Religion und Staat nie getrennte Wege gehen müssen, weil der Islam (angeblich!) kaum schlechte Erfahrungen mit religiös motivierter Gewalt gemacht habe, jedenfalls nicht vor dem Aufkommen des Islamismus im 20. Jahrhundert. Der Säkularismus sei eine europäische Antwort auf ein europäisches Problem gewesen und nicht auf den Islam übertragbar oder seine Übertragung nicht wünschenswert.
Beide Behauptungen schliessen einander aus, aber beide sind von demselben Wunsch getrieben, den Islam gegenüber einem Europa zu verteidigen, das so viel auf seine Errungenschaften hält. Islam-Apologetik funktioniert mal so, mal so. Das ist so ähnlich wie mit der Frage, ob es „den“ Islam gibt: Die eine Gruppe der Islam-Apologeten behauptet, die Vorstellung, es gebe „den“ Islam, sei westliches Vorurteil. Die andere Gruppe behauptet, das westliche Vorurteil bestehe gerade in der Vorstellung, es gebe mehr als einen Islam. Als nichtmuslimischer Westler kann man hier nur verlieren.
Wie dem auch sei, ein Vertreter der zweiten Gruppe der Islam-Apologeten ist Rüdiger Lohlker (Wien). Der Wiener Islamwissenschaftler stört sich weniger am Verständnis des Begriffes dawla, sondern an dem des dīn. Diesen „nur mit ‚Religion‘ zu übersetzen‟, hält er für falsch, da der Begriff einen grösseren Komplex an Regeln der Lebensführung umfasse. Damit liesse sich auch die Demokratie in den dīn einbeziehen. Wo man in den islamischen Quellen eine Begründung für Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und freie Wahlen finden soll, bleibt freilich Lohlkers Geheimnis.
Derselbe Rüdiger Lohlker nun darf für den ORF seine Auffassung zum Thema politischer Islam kundtun. Hintergrund ist der jüngste Vorstoss von Kanzler Sebastian Kurz, den politischen Islam zu einem Straftatbestand in Österreich machen zu wollen. Lohlker kann, wie erwartet, mit dem Begriff „politischer Islam“ überhaupt nichts anfangen und hält ihn für untauglich, gar für einen „Nicht-Begriff“. Darunter könne man ganz unterschiedliche Phänomene fassen, angefangen von der türkischen AKP bis hin zu al-Qaida, als ob es sich dabei um Organisationen handelte, die unterschiedlicher nicht sein können.
Während also die einen Islam-Apologeten einen wahren Islam zu kennen glauben, der mit dem politischen Islam nichts zu tun habe, können die anderen mit dem Begriff des politischen Islam gar nichts anfangen, weil im Islam, dieser wunderbaren, facettenreichen und hochkomplexen Religion, immer schon alles enthalten ist – natürlich auch die Politik. Vielleicht sollten beide Gruppen von Islam-Apologeten einmal untereinander diskutieren, bevor sie sich an die Öffentlichkeit wenden.