Ohne Grenzen

Der ukrainische Präsident Selenskij schliesst Verhandlungen mit Russland unter der gegenwärtigen Führung per Dekret aus. Der Kreml wiederum lässt verlautbaren, man sei für Verhandlungen bereit, wenn der ukrainische Präsident es sei – der jetzige oder eben der künftige. Hält Selenskij den Schwarzen Peter in Händen?

„St. Basil’s Cathedral, Kremlin, Russia“/ CC0 1.0

An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, was Kreml-Sprecher Peskow vor einem Monat sagte: Aus Sicht Moskaus könne es bei Verhandlungen einzig darum gehen, dass die Ukraine die russischen Forderungen erfüllt. Implizit wird damit jeglichem Kompromiss eine Absage erteilt.

Derweil schafft Moskau Fakten, indem es ukrainisches Territorium nach Belieben annektiert. Irgendwie scheint dem Kreml allerdings entgangen zu sein, die Grenzen dieser Gebiete zu definieren, die per Pseudo-Referendum zu einem Bestandteil Russlands erklärt werden.

Also verkündet Peskow, man wolle einfach weiter mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt bleiben. Irgendwie wird sich das schon einrenken, während man hier und dort ein bisschen Land annektiert. Was kümmert einen das Völkerrecht? Dies beobachtet man auch in Japan, wo man eine Parallele zum eigenen Land zieht.

Tokio nämlich hat nie seine diplomatischen Versuche aufgegeben, die von Russland beanspruchten Kurilen wiederzubekommen. Unabhängig davon, wer in diesem Fall eher das Völkerrecht auf seiner Seite hat, beruft man sich in Japan auf einen Passus der Gemeinsamen Erklärung, die man 1956 mit der Sowjetunion formuliert hat.

Darin wird die zukünftige Möglichkeit festgelegt, alle bilateralen territorialen Streitigkeiten in einem Friedensvertrag zu klären, womit anschliessend die Habomai-Inseln und die Insel Shikotan an Japan übertragen werden (Art. 9). Diese Hoffnung, die Japan mit einen Friedensvertrag verband, löste sich mit der Annexion der Krim 2014 in Luft auf.

Aber jetzt erst verkündete auch Kreml-Sprecher Peskow, dass ein Friedensvertrag mit Japan unmöglich sei. Der Kreml macht eben keine Kompromisse – nicht mit der Ukraine, nicht mit Japan. Erst wird erobert, dann annektiert, am Ende werden Verhandlungen in der Absicht angeboten, die annektierten Gebiete geschenkt zu bekommen.

So gibt es auch nichts, worüber Selenskij verhandeln könnte. Wir haben es mit einem grenzenlosen Russland zu tun, dessen Führung sich nach wie vor dem Imperium verschrieben hat. Schon manch ein Imperium ist freilich an Überdehnung zugrunde gegangen.


Nachtrag 14. Oktober 2022

Eine Investigativrecherche der Nachrichtenagentur AP hat Schockierendes ergeben: “Russia’s open effort to adopt Ukrainian children and bring them up as Russian is already well underway, in one of the most explosive issues of the war, an Associated Press investigation shows.” Dabei will die Agentur herausgefunden haben, dass Kinder gegen ihren Willen verbracht wurden, mithin die Behauptung von russischer Seite, man habe es mit Waisen zu tun, unhaltbar sei. AP weist darauf hin, dass diese Praxis als Teil eines kulturellen Genozids gewertet werden kann.

In einem Beitrag der Zeitschrift “Osteuropa” heisst es im Exposé: “In den seit Februar 2022 von Russland besetzten Gebieten wenden die Besatzer dieselben Instrumente an wie schon 2014 auf der Krim und im Donbass. Sie schneiden die Bevölkerung von ukrainischen Informationsquellen ab, verbreiten ihre Propaganda und schalten das Bildungssystem gleich.” Der Beitrag steht als Volltext im .pdf-Format zur Verfügung.

Nachtrag 21. Januar 2023

Ein Beitrag der exilierten Novaya Gazeta Europe in der taz resümiert die gegenwärtige Stimmung in Russland: “Täglich wird ein und dasselbe gepredigt: Russland ist am besten, deshalb hassen alle das Land und versuchen es zu schwächen. (…) Jedoch genau das ist die Art von Politik, die von Putins Regierung verfolgt wird. Sie geht persönlich vom Präsidenten aus, der von der Idee besessen ist, das ehemalige Sowjetimperium (oder zumindest den größten Teil davon) wiederzubeleben.” Dazu gehört auch ein Feindbild Ukraine als Teil eines grösseren Feindbildes Westen.

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