Was ist denn ‘der Islam’? … Wenn Sie heute mit Syrern oder Irakern um die 30 reden, dann werden eine ganze Reihe von denen sagen, dass Konfession für sie im persönlichen Alltag keine Rolle gespielt hat.” In einem Streitgespräch in der “Welt” treten all die falschen Argumente zum Vorschein, die die Islamdebatte hierzulande prägen.
Um es vorwegzunehmen: Der Unterschied zwischen Islam und Islamismus ist wichtig und nicht zu leugnen. Ebenso wenig zu leugnen ist aber die Tatsache, dass es zwischen beiden eine Schnittmenge gibt. Genau das will die Redakteurin, die auch Islamwissenschaftlerin sein soll, nicht wahrhaben, die im Streitgespräch den Islam gegen die Thesen des Publizisten Henryk Broder (“Hurra, wir kapitulieren!”) zu verteidigen versucht.
Genau darum aber geht es vielen Islamwissenschaftlern: Einfach nur den islam zu verteidigen, mit welch dünnen und fadenscheinigen Argumenten auch immer. Dazu gehört die Behauptung, “den” Islam gebe es gar nicht, nur eine Vielzahl von Islamverständnissen, die sich gar nicht auf einen Nenner bringen liessen. Das ist schon deshalb nicht plausibel weil niemand auf dieser Welt einfach nur Muslim ist, wie auch niemand einfach nur Christ ist.
Tatsächlich ist man protestantischer, katholischer oder orthodoxer Christ und ebenso sunnitischer oder schiitischer Muslim, d.h. man steht schon in einer Auslegungstradition und im Falle des sunnitischen Islam muss man zur Kenntnis nehmen, dass dieser am Ende eines theologischen Entwicklungsprozesses steht, in dem die der individuelle Deutungsspielraum erheblich eingeengt wurde.
Dieser Prozess ist wesentlich mit dem Namen asch-Schāfiʿī verbunden, Begründer einer eigenen Rechtsschule, der jedoch auch auf die anderen drei Rechtsschulen des sunnitischen Islam gewirkt hat. Dass es im sunnitischen Islam einen Auslegungsspielraum der konstitutiven Schriften gibt, allen voran der Koran, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in vielen Fragen auch so etwas wie einen Konsens der Gelehrten gibt, deren Rolle praktisch ausschliesslich in der Exegese besteht.
Das unterscheidet sie von den grossen römischen Juristen, die eigene Grundlagentexte erstellt haben. Im Islam war eine solche Entwicklung kaum möglich; um neue Rechtsprinzipien einzuführen, fehlte den Gelehrten auf Erden die nötige Autorität. Die Behauptung, dass es “den” Islam nicht gebe, soll darüber hinwegtäuschen, dass es Auslegungstraditionen und Schulbildung gibt und stattdessen den Eindruck erwecken, es habe immer nur einen koranischen Text gegeben, der zu allen Zeiten nach Belieben interpretiert worden sei.
Ebenso typisch ist die irreführende Behauptung, dass für viele Menschen aus islamischen Ländern die Konfession im persönlichen Alltag keine Rolle spiele. Tatsächlich stellen für sehr viele, sicherlich für die meisten Muslime, der Koran und die übrigen konstitutiven Schriften des Islam ein umfassendes Vademecum für die eigene Lebensführung dar. Davon abgesehen kann Religion auch die Sozialisation und damit die Werte von Menschen beeinflussen, ohne dass die sich immer darüber im Klaren wären.
Natürlich wäre es absurd zu glauben, dass ein zwingender Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt, bzw. zwischen Islam und Gewalt besteht. Aber ebensowenig lässt sich behaupten, dass es einen solchen Zusammenhang grundsätzlich nicht geben könne. Diese Ansicht wird, wenngleich wenig schlüssig, sogar von manchen Religionswissenschaftlern vertreten. Sakrale Texte werden aber nie als blosse Lektüre begriffen, sondern wenigstens zum Teil als Handlungsanweisung. Ich habe dazu einiges in meinem Buch Zwischen Religion und Politik geschrieben (Kap. “Wahrheit und Gewalt”, S. 46-67).
Auch wenn man nicht auf den Einzelfall schliessen kann, so kann man mit der Religion doch manche Tendenz in einer Gesellschaft erklären. Die Tatsache, dass der Islam nach herrschender Vorstellung dem Gläubigen den Alkoholgenuss untersagt, lässt daher zwar keine Aussage über den Einzelfall zu, erklärt aber, warum in der Tendenz der Alkohol in den islamischen Gesellschaften eine kulturell geringere Rolle spielt als in den westlichen. Eigentlich ist das nicht schwer zu verstehen. Daher ist die Behauptung, der Islam könne mit Gewalt nichts zu tun haben, weil dann “alles, was Muslime tun, dem Islam zuzurechnen” sei, ist barer Unsinn.
Solche Pseudo-Argumente dienen nur dazu, einer Ursachenforschung darüber auszuweichen, warum gegenwärtig allein im Namen des Islam Gewaltakte von globaler Tragweite stattfinden. Zwar gibt es auch Gewalt im Namen anderer Religionen, so im Namen des Christentums (Lord’s Resistance Army in Zentralafrika), des Judentums (Westbank) oder des Hinduismus (Indien), aber dies alles sind lokale Phänomene. Anders gesagt: Niemand in Europa fürchtet, dass radikale Hindus oder fanatisierte afrikanische Christen hierzulande ein Massaker anrichten könnten, während dies muslimischen Extremisten ohne weiteres zuzutrauen ist (und wir es ja auch schon erlebt haben).
Über diese Tatsache hinwegtäuschen soll auch der Einwand, dass von “1,6 Milliarden Muslimen” sich nur eine verschwindend kleine Minderheit in die Luft gesprengt habe, was zwar richtig ist, aber verdeckt, dass es auch so etwas wie ein unpolitisches Vorfeld gibt, in dem problematische Ansichten vertreten werden, ohne dass ihnen automatisch Taten folgten. Der Berliner Soziologe Ruud Koopmans hat in Umfragen einiges zu diesem Thema zutage gefördert, was einem zu denken geben sollte.
Dass dies alles eine lange Spur in der islamischen Kulturgeschichte hinter sich hergezogen hat, liegt offenbar völlig ausserhalb der Vorstellungskraft einer Redakteurin, die in einem früheren Beitrag für die “Welt” die Dynastie der Umayyaden hartnäckig mit Doppel-m schrieb, weil sie wohl glaubte, jene habe etwas mit “Umma” zu tun. Tatsächlich scheitert ihr Versuch, das Kalifat vor einer Inanspruchnahme durch den “Islamischen Staat” zu retten, schon daran, dass dieser sich die Abbasiden-Dynastie auch deshalb zum Vorbild genommen hat, weil sie mit dem Versprechen angetreten war, die medinensische Urgemeinde zum Vorbild ihrer Reichspolitik zu machen.
Natürlich hat die Redakteurin Bauer gelesen, dessen These von der Ambiguitätstoleranz unter Islamwissenschaftlern derzeit sehr en vogue ist, weswegen sie in ihrer Verteidigung des Islam das Argument anführt, dass bis zum 19. Jahrhundert kein Fall von Steinigung belegt sei. Auch dieses Argument ist irreführend, wie ich in meinem Buch Zwischen Religion und Politik darlege (S. 95-6). Allgemein lässt sich ebenso, wie man eine Literatur- oder Kulturgeschichte der Islamischen Welt schreiben kann, eine Gewaltgeschichte schreiben, wobei es extrem unwahrscheinlich ist, dass die Religion nicht wenigstens zum Teil zu den Ursachen der Gewalt gehört.
Bleibt noch die – nicht ganz ernstgemeinte Forderung an ihren Gesprächspartner – “die Diskussion vielleicht in Indonesien oder Indien” fortzusetzen, “beides Demokratien mit relativ hohem islamischem Bevölkerungsanteil.” Statt Indien, in dem die Muslime nur eine Minderheit bilden, hätte sie besser Malaysia genannt – aber egal, grosse Vorbilder in Sachen Pluralismus und Demokratie sind diese Länder allesamt nicht. Der amerikanische Islamexperte Shadi Hamid hat darauf hingewiesen, dass es in Indonesien grösstenteils säkulare Parteien waren, von denen Initiativen zur Anwendung der Scharia kamen, womit sich einmal mehr zeigt, dass Islamismus nicht allein eine Sache von Islamisten ist.
Wie gesagt, die angeführten Argument sind typisch – und sie sind falsch oder zumindest wenig plausibel. Freilich sind sie ebensowenig auszurotten und so werden sie uns noch lange erhalten bleiben.
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