Das moderne, diesseits- und lebensbejahende Gemeinwesen bedarf eines entsprechenden Ethos, das sich aus der Religion speisen kann, aber nicht muss. Nicht nur Institutionen erhalten es lebendig, sondern auch qua Sozialisation vermittelte Werte und Denkmuster, deren religiöser Ursprung dem einzelnen freilich nicht immer bewusst ist. Natürlich sind Menschen nicht in ihrer Religion gefangen, sodass es ihnen unmöglich wäre, anders als nach den Vorgaben jener zu handeln. Dass es keinen solchen Determinismus gibt, heisst aber noch nicht, dass Menschen sich in ihrem Handeln deshalb nicht von sakralen Schriften inspirieren oder von religiösen Idealen leiten lassen können.
Dabei entzieht sich die Frage nach der wahren Religion wissen-schaftlichen Kriterien. Die Wissenschaft kann Aussagen im wesentlichen nur über drei Dinge treffen: Wie eine Religion in diachroner Perspektive verstanden wird; inwieweit einzelne Deutungen einer Religion als konsistent und plausibel gelten können; und welche Ausdeutungen eine Religion in synchroner Hinsicht erfährt. Der erste Aspekt fällt in die Zuständigkeit der Geschichts- und Religionswissenschaft, der zweite in die der Philologie und Theologie, der dritte in die der empirischen Sozialforschung.
Was den Spielraum in der Interpretation der autoritativen Quellen anbetrifft, so gibt es wiederum „Grenzen der Interpretation‟ (so der Titel eines Buches von Umberto Eco), weswegen nicht jede Deutung gleichermassen zu überzeugen vermag, sondern nur in dem Masse, wie sie die inneren Widersprüche eines Textes zu eliminieren imstande ist. Manche Quellen verlangen mehr Kreativität in der Interpretation als andere, wenn es darum geht, die entsprechende Religion mit den Anforderungen der Moderne zu versöhnen. Eine abschliessende Aussage darüber, welche Deutung die allein richtige ist, kann aber niemals möglich sein, weil Glaubensfragen nie nur auf objektive Sachverhalte abzielen.
Der irrige Umkehrschluss, nach dem eine Religion nichts erklären könne, weil es so viele Deutungen wie Gläubige gebe, ist das andere Extrem im Spektrum kulturrelativistischer Ansätze. Es erübrigt sich schon deshalb, weil kein Gläubiger irgendeiner Religion seinen Glauben im Bewusstsein und in der Absicht praktiziert, ihn in seinem spezi-fischen Verständnis mit niemandem sonst teilen zu wollen. Tatsächlich werden sich Religionen wohl immer in mehrere Hauptströmungen unterteilen, niemals aber in Hunderte oder gar Millionen und auch dann werden diese Hauptströmungen mit ziemlicher Sicherheit über ein tertium comparationis verfügen, das sich ermitteln und beschreiben lässt. Mag sich das Wesen der wahren Religion seiner Erforschbarkeit entziehen, so gilt dies nicht für die Frage, wie Religionen verstanden werden. Einen Determinismus braucht es gar nicht, damit Menschen sich von ihrer Religion zu bestimmten Handlungen inspirieren lassen, wie jene auch zu einem geistigen Klima beiträgt, in dem bestimmte Werte vorherrschend sind, ohne dass deshalb auf die Überzeugung des einzelnen geschlossen werden könnte.
Versuche, die Moderne als blosses Zusammenwachsen einzelner Kulturen in einer Weltgesellschaft zu deuten, vermögen nicht zu erklären, warum manche Gesellschaften politisch stabil und prosperierend sind, andere dagegen instabil, unfrei und von geringerem Wohlstand. Theorien von einer globalen Moderne oder der Existenz multipler Modernitäten erheben noch nicht einmal den Anspruch, Erkenntnisse über die sozialen, politischen und ökonomischen Unterschiede auf diesem Planeten liefern zu wollen, sondern begnügen sich damit, die versöhnliche Botschaft zu übermitteln, die da lautet: Wir alle sind modern! Fragen nach dem Wesen der Moderne werden nicht länger gestellt, wie überhaupt das „Wesen‟ sozialer Erscheinungen zu ergründen zunehmend verpönt scheint.
Die Moderne ist das Ergebnis der Überwindung all der Ängste und Irrglauben, die dem Menschen ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung unmöglich machen. Freilich scheint heute das Bewusstsein wenig ausgeprägt für die Tatsache, dass Freiheit etwas ist, das errungen werden muss. Aus gutem Grund hat der grosse Aufklärer Immanuel Kant kein Hohelied auf die Vernunft gesungen, sondern eines auf die Freiheit, jene öffentlich zu gebrauchen.
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