Zwischen Religion und Politik VII – Dimensionen der Säkularität

Die in der Forschung vertretene Vermutung, dass Modernisierung mit einem Bedeutungsverlust von Religion in der Gesellschaft einhergehe (Säkularisierungsthese), ist in jüngerer Zeit infrage gestellt worden und seitdem Gegenstand einer interdisziplinären Kontroverse. Die Schwierigkeit liegt darin, dass religiöse Handlung als solche nicht immer leicht zu identifizieren ist, weil schon das Wesen von Religion umstritten ist.

Lord Vishnu, Hindu religion sculptures“/ CC0 1.0

Der Soziologe Talcott Parsons hat im Anschluss an Durkheim und Weber sogar die These vertreten, dass auch die Säkularisierung nicht einfach als Verlust, sondern als Transformation von Religion verstanden werden müsse, die im Westen längst Teil der politischen Kultur geworden sei. Dass die an Bevölkerungszahl grösste westliche Gesellschaft, nämlich die amerikanische, zugleich modern und von grosser religiöser Vitalität ist, scheint diesem Befund zunächst zu widersprechen; hier ist eine ältere Glut offenbar noch längst nicht erloschen.

Das Great Awakening der 1730er und 1740er Jahre, religiöse Erneuerungsbewegungen, die der Amerikanischen Revolution von 1776 vorausgegangen waren, haben die USA möglicherweise viel zu stark geprägt, um einen Weg wie die protestantischen Gesellschaften des europäischen Kontinents einzuschlagen, die im Gefolge der Reformation einen Prozess der Säkularisierung durchlaufen haben.

Ob die Säkularisierungsthese deshalb schon am Ende ist, ist damit aber noch nicht gesagt. Detlef Pollack jedenfalls weiss gute Gründe, an ihr festzuhalten. Einwänden, die Säkularisierungsthese habe teleologischen Charakter und müsse schon deshalb unzutreffend sein, basierten nach Pollack auf einem Missverständnis, da die Annahme einer unausweichlich nachlassenden Vitalität von Religion nie Teil der These gewesen sei. Tatsächlich dürfte Säkularisierung zumindest tendentiell ein Ergebnis von Modernisierungsprozessen sein. Hinzu kommt, dass mit zunehmender Komplexität unseres Kenntnisstandes dieser anfälliger wird für Unterschiede in der Interpretation. Alle Aussagen für oder wider die These stehen also unter Vorbehalt.

Dies aber heisst nicht, dass keine Aussagen über Säkularisierung und Moderne möglich wären. Immerhin konzediert selbst ein Kritiker der Säkularisierungsthese wie Wolfgang Knöbl (unter Verweis auf Pollack), dass für Europa – gemeint ist natürlich: Westeuropa – eine Korrelation von Modernisierungsprozess und Säkularisierung mit ziemlicher Gewissheit festgestellt werden kann. Diverse Studien ziehen aber auch die vermeintlich überdurchschnittlich hohe Religiosität der USA in Zweifel: Philip S. Brenner hat stichhaltige Belege dafür erbracht, dass die Häufigkeit des Kirchenbesuchs in den USA in Wirklichkeit geringer ist als in Umfragen ermittelt. Dieser Befund deckt sich mit anderen Studien.

Dessen ungeachtet haben Soziologen wie Steve Bruce vorgeschlagen, das Ausmass von Säkularisierung an der Verwirklichung von Pluralismus und Diversität zu messen. Dieser Ansatz weist nach Knöbl jedoch das Problem auf, dass es Pluralismus und Diversität schon vor der Moderne gegeben habe, sie als Kriterium damit möglicherweise untauglich seien. Tatsächlich legt die historische Forschung nahe, dass eine Pluralität von Glaubensformen auf eine Geschichte blicken kann, die bis zu den mediterranen Polis-Kulturen der hellenistischen Zeit hinbabreicht, als es möglich war, Religion und Kultpraxis zu wechseln. Hier muss man jedoch einwenden, dass eine solche Pluralität unvollständig ist, insofern als sie sich nur auf den positiven Glauben bezieht und Atheismus und Religionskritik von ihr ausgenommen bleiben. Hingegen ist ein Pluralismus, in dem der „Glaube als Option‟ (Charles Taylor) auch den Nicht-Glauben einschliesst, gewiss ein Produkt der Moderne und somit ein Argument für die These von Bruce.

Was soll man überhaupt unter Säkularismus verstehen? Der Politologe Charles Taylor hat eine Typologie des Begriffes erstellt, den man auf mindestens drei Arten definieren kann: Als Rückgang der Religion im öffentlichen Leben (Säkularität 1), als Niedergang des Glaubens und der religiösen Praxis (Säkularität 2) und als Veränderung der Bedingungen des Glaubens, als da wären Urbanisierung, Industrialisierung, Migration etc. (Säkularität 3). In allen Fällen handelt es sich um Idealtypen, Mischformen sind möglich. Ähnliche Typologien stammen von Peter L. Berger, Giacomo Marramao und José Casanova. Taylor selbst leitet das Phänomen des Säkularismus von einem stark diesseitsbezogenen „selbstgenügsamen Humanismus‟ ab, der „weder letzte Ziele, die über das menschliche Gedeihen hinausgehen, noch Loyalität gegenüber irgendeiner Instanz jenseits dieses Gedeihens‟ akzeptiert.

Zwar sei dieser frühneuzeitliche Humanismus, wie Taylor glaubt, aus einer religiösen Tradition, zu der auch die epikuräische Lehre zählt, hervorgegangen, doch habe diese den Gottheiten keine Relevanz mehr für das Leben zugebilligt und zunächst nur als gesellschaftlicher Katalysator wirken können, indem er den Spielraum für neue Glaubensoptionen erschlossen habe. Damit sei das Tor zu einem säkularen Zeitalter aufgestossen, in dem „der Niedergang aller über das menschliche Gedeihen hinausgehenden Ziele denkbar‟ geworden sei. Der Epochenumbruch sei aber auch ein gewandeltes Verständnis des Platonismus geebnet worden, dessen Konzept von einer durch die Form geprägten Welt in einen Appell an den Menschen mündete, diese Form aus eigener Kreativität zu gestalten. Taylor grenzt sich damit von Hans Blumenberg ab, den er so versteht, dass der Epochenumbruch eine blosse Reaktion auf das Mittelalter gewesen sei.

Tatsächlich hatte Blumenberg zunächst nur gegen die Vorstellung argumentiert, dass die Neuzeit schon deshalb besser als das Mittelalter sei, weil es mit diesem gebrochen habe. In der Hauptsache galt Blumenbergs Kritik aber der These, dass das Anbrechen der Neuzeit, wie auch immer diese sich verstehen mag, ein theologisch durchwirktes Weltbild nur fortsetze, ohne sich dieser Kontinuität bewusst zu sein. Gegen diese Kritik hat Hans-Georg Gadamer wiederum eingewandt, dass der vorausgesetzte Epochenumbruch alles andere als eindeutig sei, denn der vorneuzeitliche Fragenüberschuss, den Religion und Mythos produziert haben, sei mit der Säkularisierung keineswegs beseitigt worden. Vielmehr gehe es um ein allgemein hermeneutisches Problem, das keine Form von Wissenschaft je werde bewältigen können. Aufgabe der Säkularisierung („Säkularisation‟) könne es lediglich sein, einen solchen Fragen-überschuss, der sich gar nicht aus der Welt schaffen lasse, als Problem festzuhalten und die „pseudo-wissenschaftliche Illusion totaler Machbarkeit‟, wie sie der neuzeitlichen Wissenschaft zu eigen sei, zu zerstören. Gadamer hält daher am Mythos fest, der für ihn „Motor des Denkens‟ bleibt.

Mit dem Aufkommen des Christentums sollte sich die Frage nach der öffentlichen Rolle der Religion erneut stellen, doch ist das Neue Testament in dieser Hinsicht ambivalent. Nach Apg. 5,29 müsse man „Gott mehr gehorchen als den Menschen‟, nach Röm 13,1 sei jedermann „den vorgesetzten Obrigkeiten untertan, denn es gibt keine Obrigkeit ausser von Gott‟. Waren unter Karl dem Grossen (768-814) Kirche und Staat eine Verbindung als Reichskirche eingegangen, so setzte sich später die Auffassung durch, dass das Papsttum eine vom Kaisertum unabhängige Einrichtung zu sein habe. Aber erst im 11. Jahrhundert mit der Reform der Papstwahl durch Nikolaus II., die Laien das Amt versagte, sowie im 12. Jahrhundert mit den infolge des Investiturstreits (1056-1106) geschlossenen Konkordaten, die das Prinzip der rein innerkirchlichen Wahl auf Bischöfe und Äbte ausdehnten, kam es, wenn auch nicht zur Trennung von sakraler und weltlicher Sphäre, so doch zur Differenzierung beider.

Diese Entwicklung wurde von einer intellektuellen Revolution flankiert, die schon vorab ins Rollen gekommen war und innerhalb des Christentums die Idee vorantrieb, das eigene Textkorpus zum Gegenstand von Theologie und Philosophie gleichermassen, zu machen, versinnbildlicht in Jerusalem und Athen. Die christliche Kultur, resümiert der Religionswissenschaftler Guy Stroumsa, konstituierte sich, „indem sie von der biblischen zur kulturellen Hermeneutik überging.‟ In der Herausbildung zweier Sphären, die einander zwar durchdrangen, doch jeweils aus eigenem Recht heraus und auf gemeinsamer Augenhöhe einander begegneten, lag ein wesentlicher Schritt in Richtung Säkularismus.

Der Satz von Jacob Burckhardt, dass im Abendland „die Identifikation von Religion und Staat glücklich vermieden‟ werde, mag daher eine Zuspitzung sein, doch ist er im Kern zutreffend, seitdem das frühe Christentum, wie Max Weber feststellte, seine Vorstellung von Brüderlichkeit vor allem in der Emanzipation vom politischen Verband entwickelt hat. Nach Gadamer war gerade der Antagonismus zwischen Kirche und Reich, wie auch ein „straffer Zentralismus des Kirchenregiments‟ im Westen einmalig. Man muss betonen, dass es sich hierbei um eine rein westliche, nicht etwa allgemein christlich-europäische Entwicklung handelt, denn in Byzanz sollte sich die Kirche niemals in vergleichbarem Masse der kaiserlichen und damit politischen Sphäre entziehen.

Dort hätten die Dinge vielleicht einen anderen Gang genomen, wenn sich 551 der afrikanische Bischof Facundus von Hermiane gegen Kaiser Justinian durchgesetzt hätte, als er an diesen appellierte, sich von den Angelegenheiten der Kirche fernzuhalten. Für Facundus war selbst der Kaiser nur ein Laie, der dem Bischof zu unterstehen habe. Darin folgte er Ferrandus, dem Diakon der Kirche von Karthago, der dem einzelnen Gläubigen zugestand, sich über seine Konfession in jeder erdenklichen Weise zu äussern, doch davon ablassen solle, anderen seine Ansichten aufzuzwingen. Facundus’ Appell erfolgte vor dem Hintergrund des kaiserlichen Versuches, im sog. Dreikapitelstreit über den Kanon eine eigene Christologie durchzusetzen, doch sollte der Kaiser das letzte Wort behalten und so wurde Facundus in die Thebaische Wüste verbannt. Hätte der Streit ein anderes Ende genommen, wäre der theologische Diskurs womöglich unabhängiger von Beschlüssen der Ostkirche verlaufen.


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