Die gegenwärtigen Spannungen zwischen der Türkei und einigen europäischen Ländern sind alarmierend, denn noch ist die Türkei unser Verbündeter und es sollte im Interesse Europas und des Westens liegen, sie nicht zu einem weiteren gescheiterten Staat in der Region werden zu lassen. Klar ist aber auch etwas anderes.
Deutschland und die Niederlande müssen sich gegen das aggressive Gebahren der türkischen Regierung entschieden verwahren und deutlich machen, dass die türkische Praxis, sämtliche Einwohner der EU mit türkischen Wurzeln als eine Art fünfte Kolonne zu betrachten, die man nach Belieben für eigene Zwecke aktivieren kann, verwerflich ist und nur Zwietracht sät.
Gerade in Deutschland haben wir lange zu akzeptieren gebraucht, dass man Deutscher nicht nur sein, sondern auch werden kann. Nun kommt die Türkei, NATO-Land und EU-Mitgliedschaftsanwerberin, mit einer Rhetorik daher, die diese Entwicklung völlig negiert und allen EU-Bürgern türkischer Herkunft unterstellt, dass ihre türkische Identität nicht nur fortlebt, sondern alle individuellen Entscheidungen darüber, wie man sich definiert und welchem Land die eigene Loyalität gilt, transzendiert. Besonders sinnfällig kommt dies in der Schlagzeile einer türkischen Zeitung zum Ausdruck: Hollanda’nin 48 bin askeri var, Hollanda’da 400 bin Türk yaşıyor – „Holland hat 48.000 Soldaten; in Holland leben 400.000 Türken.“
Dabei ist es freilich nichts Neues, dass die Türkei versucht, türkischstämmige EU-Bürger für sich zu vereinnnahmen. Schon Ende der 1990er Jahre war bekanntgeworden, dass die Türkei Ausbürgerungsanträge, die vorzulegen der deutsche Staat zur Pflicht für die Einbürgerung in Deutschland macht, ihren eigenen Bürgern ausstellt, um diese nach erfolgter Einbürgerung in Deutschland gleich wieder zu türkischen Bürgern zu machen und damit Doppelstaatsangehörigkeiten ermöglicht, die der deutsche Staat vermeiden will. Das ist aus türkischer Sicht legal, untergräbt aber das deutsche Rechtssystem, das freilich dieser Praxis nichts entgegenzusetzen hatte.
Genauso rücksichtslos geht die Türkei vor, wenn es darum geht, türkische Politiker zu Kampagnen in europäische Ländern reisen zu lassen, damit sie dort für Erdoğans Vorhaben einer Umwandlung des türkischen politischen Systems in ein Präsidialsystem werben. Dabei sieht zunächst einmal Art. 41,2 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen von 1961, das auch die Türkei ratifiziert hat, folgendes vor: „Alle Amtsgeschäfte mit dem Empfangsstaat, mit deren Wahrnehmung der Entsendestaat die Mission beauftragt, sind mit dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten oder dem anderen in gegenseitigem Einvernehmen bestimmten Ministerium des Empfangsstaats zu führen oder über diese zu leiten.“
In diesem Sinne ist die Anreise der türkischen Familienministerin Fatma Kaya mit Rotterdams Bürgermeister Ahmed Aboutalib abgesprochen gewesen, allerdings machte dieser hinterher deutlich, dass ihn der Generalkonsul der Türkei, Sadin Ayyıldız, belogen habe, was die Ministerin und ihre Entourage angeht, der Aboutalib daraufhin den Zugang zum Konsulat von Rotterdam verweigerte. Aboutalib zufolge war ihm versichert worden, dass Kaya nur zum Zwecke eines privaten Besuchs anreise, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass sie an einer politischen Kundgebung teilnehme. Dass dies auf niederländischer Seite als Affront empfunden wurde, ist völlig verständlich.
Die türkische Seite behauptet, es sei nicht akzeptabel gewesen, dass die niederländische Regierung eine Liste mit allen Teilnehmern der Kundgebung im Rotterdamer Konsulat verlangte, doch dürfte ein solches Ansinnen wohl kaum in Widerspruch zu Art. 41 des Wiener Übereinkommens stehen. In diesem Zusammenhang ist die Sprache des türkischen Auswärtigen Amtes verräterisch, wenn dieses eine vermeintliche Doppelmoral der niederländischen Regierung anprangern zu müssen meint, die bei jeder Gelegenheit ihre Verpflichtung zu Demokratie und Freiheit betone, gleichzeitig aber „einer knappen halben Million unserer Bürger“ die grundlegenden demokratischen Rechte verweigere.
Wieder einmal zeigt sich: Die Türkei betrachtet einfach alle EU-Bürger türkischer Abkunft als Türken, wobei sie selbst seit langem dafür sorgt hat, sie zu Doppelstaatlern zu machen, um sich dann zu deren Anwältin aufzuschwingen und ihre vermeintlich bedrohten Rechte gegenüber intoleranten europäischen Regierungen geltend zu machen. Das ist ein ziemlich fieses Spiel, das die Türkei hier spielt. Dabei sollte klar sein, dass es gerade Erdoğans politischer Kurs ist, der die demokratischen Partizipationsmöglichkeiten der eigenen Bürger immer weiter beschneidet.
Nicht nur die Presse gilt in der Türkei nach Einschätzung von Freedom House als unfrei. Auch das von Erdoğan angestrebte Präsidialsystem hat seine Tücken. Nicht, dass Präsidialsysteme per se undemokratisch wären, man denke nur die USA oder Frankreich. Aber auch wenn man nach Art. 101 höchstens zwei Mal zum Präsidenten der Republik gewählt werden darf, so wird der Präsident nach Art. 166, wenn die Nationalversammlung während der zweiten Amtsperiode des Präsidenten der Republik Neuwahlen vorzunehmen beschliesst, ein weiteres Mal kandidieren können. Das eröffnet Erdoğan die Möglichkeit, seine Macht auf eine Weise zu festigen, die die Demokratie vollends zur Farce werden lässt.
Solche Türken, die in Europa leben, für die Türkei aber politische Verhältnisse wünschen, unter denen sie selbst nicht leben möchten, hat die Schweizer Zeitung „Blick“ folgenden Ratschlag parat: „Wer in seinem Heimatland diktatorische Verhältnisse einführen will – bitte schön. Aber dann soll er auch unter ihnen leben.“ Türkische Nationalisten schäumten über und griffen zu den altbekannten und auch von türkischer Regierungsseite gern genutzten Nazi-Vergleichen. Immer mit dem Kopf durch die Wand: Erdoğan beschimpft sogar Merkel für ihre Solidarität mit den Niederlanden.
Da auch die türkische Wirtschaft unter Überregulierung und Nepotismus leidet, die Politik aber nicht den Mut zu Reformen findet, wächst die Neigung, mit dem Kampf gegen äussere Feinde vom eigenen politischen Versagen abzulenken. Zwar hat die AKP ihre Popularität gerade auch ihren wirtschaftlichen Erfolgen zu verdanken, aber mittlerweile ist Erdoğan zu einer Politik umgeschwenkt, die diese Erfolgsgeschichte vor allem mit den Mitteln der staatlichen Intervention in die Märkte fortschreiben will. Wenn das gewünschte Ergebnis ausbleibt, werden Verschwörungstheorien herangezogen, die nach dem gescheiterten Putsch umso stärker ins Kraut schiessen.
Einigermassen beunruhigen sollte auch, dass die türkische Regierung die Zypernfrage zu instrumentalisieren versucht. Tatsächlich hat Griechenland, ungeachtet der sog. Erbfeindschaft und des Konfliktes um den Festlandssockel in der Ägäis, sich seit langem für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei eingesetzt. Das ist vor dem historischen Hintergrund beider Länder keine Selbstverständlichkeit (auch wenn Griechenland sich von einer EU-Mitgliedschaft eigene Vorteile versprechen mag). Dass die Griechenland Putschisten nicht an die Türkei ausliefern mag, hat sich die Türkei selbst zuzuschreiben, bestehen doch erhebliche Zweifel, ob die Putschisten dort ein rechtsstaatliches Verfahren erwartet.
Zwar hat Aussenminister Çavuşoğlu recht, wenn er die unkritische Verherrlichung der griechischen Seite anprangert, vergangene Versuche zu verherrlichen, die einen Anschluss Zyperns an Griechenland zum Ziel hatten, wobei sie den Terror, den die griechisch-zyprische EOKA gegen türkische Zivilisten verübte, offenbar völlig ausblendet. Das rechtfertigt aber nicht, die Frage der territorialen Zugehörigkeit von Kardak neu ins Spiel zu bringen, die Griechenland und die Türkei vor zwanzig Jahren schon einmal fast zum Krieg getrieben hätte. Der griechische Aussenminister Nikos Kotzias verbat sich zudem Anfeindungen seitens seines Amtskollegen, ihn der Lüge zu bezichtigen. Aktuelle Versuche eine Angliederung des griechischen Teils Zyperns an Griechenland seit 2015 findet immerhin unter Beteiligung der UN statt.
Jetzt ruft sogar die NATO alle Beteiligten dazu auf, die Auseinandersetzung nicht weiter hochschaukeln zu lassen. Von all dem am meisten profitieren mag sicherlich Putins Russland, zumal in Syrien, wo Russland ein mächtiger Player ist, die Türkei sich selbst ein Bein gestellt hat, als sie ihren Kampf gegen den IS dem gegen die Kurden unterordnete, die nun aber zu den Hauptkämpfern gegen den IS gehören. Dabei hat der Kampf gegen kurdische Unabhängigkeits- bzw. Autonomiebestrebungen gerade auf türkischer Seite, also im eigenen Land, für erhebliche Verwüstungen geführt, was erst jüngst die UN angeprangert hat.
Nein, das westlich-türkische Verhältnis gehört dringend repariert – aber mit Erdoğan dürfte das unmöglich sein.