Holodomor und die Verantwortung vor der Geschichte

Der Bundestag hat den “Holodomor”, die von Stalin zu verantwortende Hungersnot, der zwischen 1932 und ’33 Millionen Ukrainer zum Opfer fielen, als Genozid anerkannt. In Israel dagegen ist ein Versuch, den 6. Dezember zur Erinnerung an den Holodomor zu widmen, vor einigen Jahren gescheitert. Die Gründe dafür sollte man auch hierzulande zur Kenntnis nehmen.

„Devastation in Bucha, Ukraine“/ CC0 1.0

Hier zeigt sich die Problematik staatlichen Eingriffs in den öffentlichen Diskurs über historische Problemstellungen. Während der Holodomor als Ereignis unstrittig ist und, soweit zu überblicken, kein Forscher Zweifel daran äussert, dass ihm mindestens einige Millionen Ukrainer zum Opfer gefallen sind, hat es dennoch seinen guten Grund, warum ein Gesetzentwurf von 2018, den ukrainischen Genozid anzuerkennen, sich in der Knesset nicht durchsetzte.

Dieser Tage hat der israelische Präsident Isaac Herzog die israelische Position noch einmal bekräftigt: Es sei wichtig, des Holodomor zu gedenken, zumal angesichts des drohenden, von Putin offenbar als Waffe benutzten Hungers in der Ukraine. Eine offizielle Anerkennung als Genozid verweigert Jerusalem jedoch nach wie vor. Das mag sich in den kommenden Wochen ändern, zeigt aber, wie belastet das Thema ist.

In der Ukraine selbst war zumindest noch in der jüngeren Vergangenheit die Vorstellung weitverbreitet , dass der Holodomor ein Werk der Juden gewesen sei oder Juden überproportional an ihm beteiligt, wie überhaupt Judentum gerne und häufig mit Kommunismus identifiziert wird, so der Historiker John-Paul Himka. Die antisemitische Vorstellung vom “Judäo-Kommunismus” (Å»ydokomuna) ist demnach fester Bestandteil des polnischen und ukrainischen Nationalismus.

In einigen osteuropäischen Ländern dient der Holodomor häufig aber dazu, entweder sowjetische und Nazi-Verbrechen auf eine Stufe zu stellen, den Holocaust damit zu relativieren, oder sogar, wie Himka ausgeführt hat, ihn über den Holocaust zu stellen, also zu einem noch monströseren Verbrechen zu erklären, was freilich nur möglich ist, wenn man die Zahlen entsprechend aufbläht. Die realistischen Opferzahlen dürften bei etwa zweieinhalb bis dreieinhalb Millionen liegen, so Himka.

In einer Studie von 2010 für das Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung hat der Bildungsforscher Victor Shnirelman darauf aufmerksam gemacht, wie problematisch eine Kategorisierung des Holodomor als ukrainischer Genozid selbst dann ist, wenn man bei realistischen Opferzahlen bleibt. So wird man feststellen, dass in dieser Grössenordnung auch noch andere Massenmorde stattgefunden haben, was die Frage aufwirft, warum man das eine als Genozid bezeichnen soll, das andere hingegen nicht.

Wie der Holodomor für sinistre politische Zwecke missbraucht wird, beobachtet auch der amerikanische, in Vilnius lebende Literaturwissenschaftler und Betreiber des Portals “Defending History”, Dovid Katz. So würden z.B. im Museum für Genozidopfer im litauischen Vilnius Nazi- und Sowjetverbrechen gegeneinander aufgerechnet und im Handbuch des ukrainischen “Instituts für Nationale Erinnerung” der Holodomor lang und breit beschrieben, der Holocaust hingegen, an dem Ukrainer tatkräftig mithalfen, zu einer blossen Fussnote verkleinert.

Dass der Bundestag den Hungermord durch Stalin als Genozid anerkennt, ist nicht unbedingt ein falscher Schritt, auch wenn man die Frage stellen darf, wie weit sich die Politik in öffentliche Diskurse einmischen sollte. Entscheidend aber ist, dass eine solche Anerkennung mit einem entsprechenden Verantwortungsgefühl einhergeht, antisemitische, holocaustleugnende und -relativierende Kräfte nicht zu ermutigen, sondern in die Schranken zu weisen.

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