An die 240.000 Bürger griechischer Herkunft sollen in der Ukraine und mehr als 150.000 von ihnen im Grossraum Mariupol und im Bezirk Donetsk leben – in einem Gebiet, das jetzt von der russischen Armee eingekesselt wird. Viele wollen Mariupol verlassen, vor allem die Griechen, die zwar auf Seiten der Ukrainer stehen, aber nicht immer erpicht darauf sind, zu den Waffen zu greifen.
Angeblich soll die russischen Armee ihnen sogar einen humanitären Korridor zugesichert haben. Doch seit einigen Tagen wird berichtet, dass das rechtsextreme ukrainische Asow-Regiment die griechischen Zivilisten daran hindert, die Stadt zu verlassen. Andere Quellen bestätigen dies, so der in Mariupol lebende griechische Ökonom Thrasos Eftychidis.
Allerdings, so Eftychidis, seien die Russen auch nicht gerade zimperlich: Russischsprachige Separatisten der östlichen Provinzen haben demnach die Kontrolle über mehrere griechische Dörfer übernommen, während die russische Armee wiederholt Krankenwagen angehalten, sie konfisziert und in einigen Fällen die Insassen getötet haben soll.
Gegenüber dem griechischen Sender ERT beklagte eine Ukraine-Griechin ebenfalls schon vor einigen Tagen, dass man sie nicht aus der Stadt herauslasse, sie fügte aber hinzu, dass es die russischen Soldaten seien, die Menschen töteten und dann das Gegenteil behaupten. Schon längst ist der Krieg dreckig geworden.
Nachtrag 6. März 2022
Dass die russische Armee den Zivilisten in Mariupol einen humanitären Korridor ermöglichen will, sei beileibe keine gute Nachricht, kommentiert Margit Hufnagel in der „Augsburger Allgemeinen“. Putins Ziel nämlich sei es, „die Bevölkerung zur Flucht zu bewegen, damit er selbst freie Bahn hat. Der erbitterte Widerstand auch der Zivilisten ist es, der der russischen Armee das Vorankommen schwer macht.“ Dieses Vorgehen sei für Putin erprobt, zumal Mariupol eine wichtige strategische Bedeutung zukomme.
Nachtrag 8. März 2022
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) warnt, humanitäre Korridore seien nicht primär dazu da, Zivilisten zu retten, sondern ungehemmter losschlagen zu können.
Nachtrag 10. März 2022
Für die „taz“ berichtet die ukrainische Journalistin Anna Mulykina aus dem belagerten Mariupol, dass nicht nur Hilfskonvois von den Russen beschossen werden, sondern auch solche Zivilisten, die über einen sogenannten „humanitären Korridor“ die Stadt zu verlassen versuchen: „Dieser Krieg soll die ukrainische Bevölkerung vernichten. Anders ist das alles nicht zu bewerten.“
Nachtrag 12. März 2022
In der „Jerusalem Post“ spannt Seth Frantzman einen Bogen von der Ukraine zu Syrien, wo Russland zuvor schon all das praktiziert hat, was es jetzt auch praktiziert : „Russia harassed civilians into fleeing, and then agreed to short-term ‚ceasefires‘ to channel the civilians into ‚corridors.‘ The idea here is to choke cities and give the aggressor an opening to target civilians.“ Auch der Angriff auf Krankenhäuser sei Teil dieser erprobten Vorgehensweise.
Nachtrag 21. März 2022
Der griechische Konsul Manolis Androulakis, einer der letzten europäischen Diplomaten in der Ukraine, hat gestern das Land gen Athen verlassen und berichtet: „Mariupol wird in eine Liste von Städten in der Welt aufgenommen werden, die durch den Krieg völlig zerstört wurden, wie Guernica, Stalingrad, Grosny, Aleppo.“ Im Gespräch mit OPEN TV bezeichnet er die in Mariupol Verbliebenen als „Helden“ und das, was in der Ukraine geschehe, als „durch nichts zu rechtfertigen.“
Nachtrag 10. April 2022
Eine Reportage von „Politico“ widmet sich den Griechen von Mariupol, deren Kultur im derzeitigen Krieg unterzugehen droht. Sie gelten traditionell als russlandfreundlich, was mittlerweile infrage gestellt wird. (NB: Mehrfach ist im Text auch von „Rumäern“ die Rede, die ich nicht kenne. Ich dachte zunächst, es seien Aromunen gemeint, auch bekannt als Vlachen. In der Reportage heisst es jedoch, die Rumäer sprächen zum Teil Griechisch, zum Teil Urum, eine Turksprache. Aromunisch (Vlachisch) ist aber ein rumänischer Dialekt, es muss sich daher um eine andere Gruppe handeln. Dafür gibt es auch eine akademische Quelle.) Die Vorsitzende der Föderation Griechischer Gemeinden in der Ukraine, Aleksandra Protsenko, sagt unmissverständlich, dass der Krieg ein Genozid an den Ukrainern und an den Griechen sei, begangen von der Russischen Föderation. Russische Propaganda dürfe die Griechen in aller Welt nicht verunsichern.
Nachtrag 23. Februar 2024
Seitdem Mariupol unter russischer Kontrolle steht, sind Nachrichten aus der Stadt spärlich. Aufgrund von Zeugenaussagen und Satellitenbildern haben ukrainische Menschenrechtler rekonstruiert, dass mindestens achttausend Menschen bei den russischen Angriffen auf Mariupol getötet und bis zum Ende der Belagerung Mitte Mai 2022 93 Prozent aller mehrstöckigen Wohngebäude im Zentrum der Stadt zerstört worden sind, ebenso alle neunzehn Krankenhausstandorte und 86 von 89 Bildungseinrichtungen.