Israels Existenzrecht

Warum darf Deutschland existieren? Warum Griechenland? Warum die Türkei? Oder Albanien? Das sind seltsame Fragen, die niemand stellt und wer sie gestellt bekäme, würde erst einmal nach einer Antwort suchen müssen, falls er die Frage überhaupt ernst nähme. Anders, wenn es um Israel geht: Da scheint die Antwort auf die Frage nach dem Existenzrecht auf der Hand zu liegen.

„‘Palaestina. Geographisk, archæologisk och historisk Beskrifning. Tredje Upplagen, omarbetad och mycket tillökt’. (1842)“ / pdm 1.0

Sowohl von den Feinden als auch den Freunden Israel wird häufig auf den Holocaust, das Menschheitsverbrechen schlechthin, verwiesen und, je nach Standpunkt, gegen oder für Israel verwendet: Indem Israel entweder als blosses Nebenprodukt europäischer Geschichte zulasten der Palästinenser herabgesetzt oder als lebenswichtiger Schutzraum für Juden aus aller Welt gewürdigt wird.

Eine historischer Sonderfall?

Beide Seiten aber unterstellen, Israel stelle einen Sonderfall in der Region dar. Manche leiten daraus eine besondere deutsche Verpflichtung ab, für palästinensische Interessen einzutreten. All das zeugt jedoch von historischer Unkenntnis, denn Israel ist, was seine neuzeitliche Wiederentstehung betrifft, weder ein Sonderfall in der Region noch das blosse Nebenprodukt europäischer, vor allem deutscher Judenverfolgung und -vernichtung.

Um es kurz zu machen: Sämtliche Staaten der Östlichen Mittelmeerrwelt sind auf den Trümmen des Osmanischen Reiches errichtet worden. Dessen Zerfall wurde überhaupt erst durch politische Zentrifugalkräfte herbeigeführt, die zuerst auf dem Balkan – unter Serben und Griechen – auftraten. Einige Wortführer und Vordenker der frühen Nationalbewegungen dieser Region sassen in Wien.

In Wien lebte bekannte auch Theodor Herzl, der beeinflusst war von Männern wie Yehuda Ben Shlomo Ḥai Alkalai, Eliezer Papo oder Judah Ben Samuel Bibas – allesamt jüdische Gelehrte aus Südosteuropa, das im 19. Jahrhundert zum Osmanischen Reich gehörte. Die Idee nationaler Selbstbestimmung war damals virulent und hatte zunehmend Anhänger unter einer jüdischen, serbischen, griechischen, albanischen, später auch türkischen, syrischen, iranischen etc. Elite gefunden.

Alkalai wird üblicherweise als Vertreter eines religiösen Zionismus gesehen, doch beschränkte sich seine religiöse Argumentation auf den Nachweis, dass die Gründung eines jüdischen Staates – anders als seine orthodoxen Gegner behaupteten – dem religiösen Gesetz nicht entgegenstehe. Auslöser seiner Schriften war denn auch keine theologische Debatte, sondern die nationalen Aspirationen der Serben und Griechen, denen es nach dem Willen Alkalais nachzueifern galt.

Alkalai hatte verschiedentlich die grossen jüdischen Gemeinden Europas, Konstantinopels und Palästinas aufgesucht, um für seine Idee eines jüdischen Natinalstaats zu werben. Etwa zeitgleich warb im ostpreussischen Thorn der Rabbiner Zwi Hirsch Kalischer (gest. 1874) für dieselbe Idee, die er ebenfalls nicht im Widerspruch zu den rabbinischen Überlieferungen sah. Kalischer empfahl den Juden, dem Vorbild der Italiener, Polen und Ungarn zu folgen.

Israels Existenz ist ebenso legitim wie die anderer Staaten in der Region

Die jüdische wie auch die anderen Nationalbewegungen hatten im weiteren Verlauf der Geschichte mit denselben Problemen zu kämpfen: Der Schaffung einer Nationalsprache und -literatur, der Formung eines nationalen anstelle eines bloss volkhaften Bewusstseins, der Schaffung von Institutionen, der Heimholung der Diaspora, dem Umgang mit ethnisch-religiösen Minderheiten und der Unterstützung durch Grossmächte im Kampf um Anerkennung.

All das geschah im Gleichklang mit der Nationwerdung benachbarter Staaten und lange vor dem 2. Weltkrieg. Die neuzeitliche Staatswerdung Israels muss daher als Teil eines gewaltigen Transformationsprozesses begriffen werden, der das ganze Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches umfasste und schliesslich in die heutige nationalstaatliche Ordnung mündete. Die Aufnahme von Flüchtlingen und Überlebenden des Holocaust fällt in die Spätphase dieses Prozesses.

Die Judenvernichtung begründet zweifelsohne eine deutsche Verantwortung für ein “Nie wieder!”, aber der jüdische Staat ist davon unabhängig entstanden und bedarf keiner sechs Millionen von den Nazis ermordeten Juden zur Rechtfertigung seiner Existenz. Israel ist als Staat in der Region ebenso legitim wie die anderen Staaten der Region, die aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches entstanden sind.

Deutschland sollte in diesen Stunden voll und ganz an der Seite Israels stehen – aber vor allem deswegen, weil kein Staat es verdient, von fanatischen Terroristen überfallen zu werden, die seine Bürger verschleppen, vergewaltigen und massakrieren. Denn Hamas und Hisbollah wollen keine Koexistenz, sie wollen Israel auslöschen. Unsere Unterstützung muss für jeden Staat gelten, der solchen Feinden gegenübersteht.


Literatur

Kreutz, Michael. 2013. Das Ende des levantinischen Zeitalters: Europa und die Östliche Mittelmeerwelt, 1821-1939. Hamburg: Kovac.


Nachtrag 12. November 2023

Die israelische Politologin Einat Wilf fasst in einem von seltener Sachkenntnis geprägten Interview mit n-tv die Hindernisse zusammen, warum es in Palästina keinen Frieden gibt. Der zentrale Punkt, darin ist ihr rechtzugeben, ist, “dass die Palästinenser als Volk im Grunde ein einziges Ziel haben: die Zerstörung des jüdischen Staates.” Dies geht einher mit der Vorstellung, immer und ewig Flüchtlinge zu sein. Wilf stellt ernüchtert fest, dass die Gegenseite beschlossen habe, lieber weiterkämpfen zu wollen, als einen Staat zu haben. Die israelischen Siedlungen in der Westbank, die sie keineswegs unterstützt, stehen einer Vereinbarung mit den Palästinensern nicht entgegen: “Auch nach 56 Jahren leben 80 Prozent der Siedler im Westjordanland auf 2 Prozent des Gebiets, das zumeist an das Gebiet des Staates Israel angrenzt.” Zudem habe Israel sich in der Frage immer kompromissbereit gezeigt.

Nachtrag 21. Januar 2024

Zu meinem Schlusssatz “Deutschland sollte in diesen Stunden voll und ganz an der Seite Israels stehen – aber vor allem deswegen, weil kein Staat es verdient, von fanatischen Terroristen überfallen zu werden, die seine Bürger verschleppen, vergewaltigen und massakrieren” passt ein Interview mit der taz, in dem die deutsch-jüdische Publizistin Mirna Funk kritisiert, dass viele Deutsche nur deshalb zu Israel stehen, weil sie eine historische Last abwerfen wollen. Sie stellt klar:
Es braucht den Holocaust nicht, um uns schützen zu wollen. Oder, anders: Es darf den Holocaust nicht geben müssen, um uns schützen zu wollen.

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