Als Netanjahu denselben Fehler ein zweites Mal beging

Jetzt ist nicht die Zeit für Schuldzuweisungen. Über zweihundert israelische Geiseln sind in der Hand der Terrorgruppe Hamas, ihre Befreiung hat oberste Priorität. Zugleich muss Israel die Infrastrultur der Hamas im Gazastreifen lahmlegen und dies bei grösstmöglicher Schonung der Zivilbevölkerung, während im Westjordanland und an der Nordgrenze weitere Fronten entstehen. Das bedeutet eine enorme Herausforderung für den jüdischen Staat, dessen Premier Netanjahu freilich nicht umhinkommen wird, eines Tages politisch Rechenschaft dafür abgeben zu müssen, warum er zweimal denselben Fehler begangen hat.

„Israel protest against terror –“/ CC0 1.0

Es hat Warnungen vor einem Angriff der Hamas gegeben, sowohl von ägyptischer Seite als auch von Beobachtern innerhalb Israels. Man musste auch kein Prophet sein, um sagen zu können, dass die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zuletzt stark gestiegen war. Auf diesem Blog haben wir im März, also vor sieben Monaten, darauf hingewiesen. Vor allem aber gibt es eine Vorgeschichte aus den Jahren 2011 und 2012.

Terror und immer mehr Terror gegen Israel

Im Jahre 2011 war das israelische Militär schon einmal zu der Einschätzung gelangt, dass die Hamas an einem grösseren Konflikt wohl nicht interessiert sei, obwohl massenhaft Waffen in den Gazastreifen geschmuggelt wurden. Damals schrieben wir auf diesem Blog: „Naheliegend ist, dass die Hamas ein doppeltes Spiel treibt: Sie duldet Aggressionen gegen Israel, bekennt sich aber nicht zu deren Urheberschaft, um keine grössere Militäraktion von israelischer Seite zu provozieren.“

Dann brach die Hamas tatsächlch gegen Israel einen Krieg vom Zaun und der damalige Hamas-Führer Mahmoud al-Zahar prahlte hinterher gegenüber der saudischen Zeitung „Al-Sharq al-Awsat“, dass Israels Sicherheitsstab davon ausgegangen sei, dass seine Organisation nicht über mehr als 300 Raketen verfüge, weswegen die Israelis überrascht gewesen seien, als eine weitaus höhere Anzahl auf sie niederging und sich noch in den letzten Tagen des Kriegs erhöht habe.

Israel habe sich erpressbar und schwach gezeigt, was für Zahar und die Hamas nur eins bedeutete: Noch mehr Terror gegen Israel, bis es kein Israel mehr gibt! Wer war damals israelischer Premier? Richtig, Netanjahu. Seine Regierung hatte sich von der Hamas an der Nase herumführen lassen, die Israel glauben machte, der Konflikt mit ihr sei beherrschbar. Damals ging der Waffenschmuggel weiter und schrieben wir auf diesem Blog, dass der nächste Krieg mit Israel nur eine Frage der Zeit sei.

Israel hatte damals im November 2012 die „Operation Wolkensäule“ gestartet, die eine Woche später mit einem Waffenstillstand endete. Doch schon im Dezember wurde aus einer der Hamas nahestehenden Quelle bekannt, dass die Terrororganisation nicht nur ihr Raketenarsenal aufstockt, sondern sogar über Raketen mit grösserer Reichweite vom Typ Fajr-5 verfügt, die aus iranischer Produktion stammen. Die Hamas behauptete damals, Fajr-5-Raketen selbst herstellen zu können.

Die Hamas hat sich immer nur auf den nächsten grösseren Angriff vorbereitet

Damals schrieben wir auf diesem Blog, dass es der israelischen Iron Dome-Technologie gelungen sei, neunzig Prozent der insgesamt 412 aus dem Gazastreifen abgeschossenen Raketen abzufangen, was einerseits ein grosser Erfolg für Iron Dome bedeutete, andererseits aber auch dessen Grenzen aufzeigte. Zudem hatte die Hamas einen taktischen Vorteil, indem sie es nicht für nötig hielt, sich an ethische Grundsätze zu halten.

Israel hingegen hat während der Kampfphase weiter Benzin, Wasser und Strom nach Gaza geliefert – was manche Israelkritiker nicht davon abgehalten hat, von einer Kollektivbestrafung der Zivilbevölkerung zu sprechen. Jetzt, wo Israel tatsächlich weder Öl, noch Wasser, noch Strom nach Gaza liefert, werden diese Anschuldigungen abermals laut (obwohl die Strom- und Wasserversorgung nur zu einem kleinen Teil an Israel hängt).

Netanjahu hat sich dieses Jahr zum zweiten Mal von der Hamas täuschen lassen. Er hat zum zweiten Mal geglaubt, sie sei beherrschbar. Seine Regierung hat Arbeitsvisa an Arbeiter aus dem Gazastreifen ausgestellt und deren Zahl über die Jahre weiter erhöht, weil sie glaubte, durch eine Verbesserung der Lebensumstände im Gaza den Konlikt entschärfen zu können. Vor allem der Waffenschmuggel hätte energisch bekämpft werden müssen.

Der Schock des Massakers vom 7. Oktober wird noch lange nachwirken. Es wird das Ende der Hamas als Organisation bedeuten, es wird den Nahen Osten verändern und es wird die israelische Sicherheitsspolitik auf lange Sicht bestimmen. Für Netanjahu aber wird es das politische Ende bedeuten. Bis dahin steht zu hoffen, dass er das Land sicher durch die schwierigste Phase seit seiner Unabhängigkeit führen wird.


Nachtrag 28. Oktober 2023

In dieselbe Kerbe schlägt ein Artikel im „National Interest“, der den Ursachen nachgeht, warum Israel vom Angriff der Hamas derart überrascht werden konnte: „For its part, Hamas strongly indicated that it sought stability in Gaza in order to deepen its presence and enhance its threat in the West Bank. (…) For Israel’s part, Prime Minister Netanyahu indicated in his memoirs that he thought the Hamas issue was a manageable challenge (…)

Nachtrag 29. August 2024

Der israelische Oppositionsführer Yair Lapid wirft Netanjahu vor, Monate vor dem Massaker vom 7. Oktober Hinweise auf einen Gewaltausbruch ignoriert zu haben.

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