Die Schlange, die zum Menschsein verführte

Von Gilgamesch bis Carl Schmitt: Der Judaist Peter Schäfer beleuchtet das abendländisch-jüdische Verhältnis anhand der Schöpfungsgeschichte.

Die Vertreibung aus dem Paradies, wie die Bibel sie erzählt, hat Kunst und Literatur bis in die Gegenwart hinein inspiriert, ist aber in ihrer vorherrschenden Deutung vom Sündenfall eine rein abendländisch-christliche, die der jüdisch-rabbinischen Intention vollkommen zuwiderläuft und als solche bis in das politische Denken der Gegenwart hinein nachwirkt, wie der Judaist Peter Schäfer in seinem neuen Buch „Die Schlange war klug“ zeigt.

Garden of Eden, from the Dance of Death“ von Wenceslaus Hollar/ CC0 1.0

Der rote Faden des Buches ist die Frage nach der Rolle des Menschen in der Welt und der Verantwortlichkeit für sein Tun. Schäfer stellt zunächst die konkurrierenden Erzählungen anderer Völker der Antike vor, die in einem inneren Zusammenhang mit den beiden Versionen der biblischen Schöpfungsgeschichte stehen und eine Zielzahl von Parallelen aufweisen. So wird deutlich, dass sie auf ganz unterschiedliche Menschenbilder verweisen: Ist der Mensch in den altorientalischen Epen (Atrachasis, Gilgamesch, Enuma Elisch, …) Diener der Götter, so wird er in der Bibel geschaffen, um die Erde zu kultivieren.

Nicht obwohl der Mensch sündhaft ist, hat Gott ihn erschaffen, sondern weil er ist

In den folgenden Jahrhunderten haben sich Philosophen und Schriftsteller an der Schöpfungsgeschichte abgearbeitet Als der bedeutendste jüdische Philosoph der Antike, Philon von Alexandrien, platonische Konzepte aufgriff, um mit ihnen die jüdische Schöpfungslehre gegen Materialisten und Gnostiker zu verteidigen, geriet er ungewollt in einen Widerspruch zur jüdischen Tradition, erklärte er doch den Menschen für gleichsam zu einem vernunftgeleiteten Leben verurteilt, während der zweite Schöpfungsbericht der Bibel (Gen. 2,4 bis 5,24) auf einen freien und selbstbestimmten Menschen angelegt ist.

Im Judentum ohne grössere Resonanz geblieben, fand Philon mit seiner Argumentation vor allem das Interesse christlicher Autoren, die ihrerseits in ideologische Grabenkämpfe nicht zuletzt gegen die Epikureer verstrickt waren, während das aufkommende rabbinische Judentum die Lehre der Hebräischen Bibel gegen Umdeutungen abzusichern suchte. Nach rabbinischer Lesart haben Adam und Eva ihre Körper keineswegs aus Scham über ihr frevelhaftes Tun bedeckt, sondern als Ausdruck von Zivilisiertheit. Das harte Leben, in das sie eintraten, ist Teil des Menschseins, keine Strafe für die Missachtung eines Gebots.

Eine Strafe für moralische Verderbtheit gibt es zwar auch. Die Sintflut steht nach Schäfer aber in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der Erbsünde, die ihrer Intention nach der Hebräischen Bibel ebenso unbekannt ist wie den griechischen Kichenvätern. Sie wurde vielmehr erdacht von den lateinischen Vätern und vor allem von Augustinus (354-430), dessen Menschenbild unter Rückgriff auf Paulus (vgl. Röm 5, 12) wenig Raum für Eigenverantwortung lässt.

Augustinus und seinen Schülern ging es vor allem darum, die Lehre des Pelagius zurückzudrängen, der dem Menschen zumutete, aus eigener Entscheidung zu einem gottgefälligen Leben zu finden. Pelagius verwarf das Konzept der Erbsünde, erklärte den Menschen für autonom und der göttlichen Gnade für nicht bedürftig. Durchzusetzen vermochte er sich nicht, seine Lehre wurde schliesslich zur Ketzerei erklärt.

Über Jahrhunderte haben sich Philosophen und Schriftsteller an der Schöpfungsgeschichte abgearbeitet

Erst die religionskritischen Vertreter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts brechen mit dem Denken des lateinischen Christentums und nähern sich wieder der rabbinischen Anthropologie an, wenn sie die Sündhaftigkeit des Menschen als Ausdruck der freien Wahl deuten: Nicht obwohl der Mensch sündhaft ist, hat Gott ihn erschaffen, sondern weil er ist. In der Hebräischen Bibel verführt die Schlange den Menschen nicht zur Sünde, sondern zum Denken und damit zum Menschsein.

Dagegen wandelte ein Carl Schmitt, einst Staatsrechtler im Dienste der NSDAP, ganz in den Bahnen des Augustinus, als er moderne politische Kategorien auf religiöse zurückführte und der liberalen Demokratie ihr Scheitern prophezeite, weil ihr das theologische Fundament fehle. Indem er der Autonomie des Menschen eine Absage erteilte, musste Schmitt zu einer Rechtfertigung des autoritären Staates gelangen, dessen zentrale Funktion die Unterscheidung von Freund und Feind ist.

Hier wäre noch stärker die Rolle der Gnosis zu beleuchten, die auch im Neuen Testament ihre Spuren hinterlassen hat und ohne die der Nationalsozialismus nicht zu verstehen ist. Freilich hätte das den Rahmen eines solchen Buches und seiner ohnehin schon ansehnlichen Zahl benutzter Quellen gesprengt. Schäfer jedenfalls vermag es elegant, seine Leserschafft durch eine mehr als zweitausendjährige Kontroverse über das Menschsein zu navigieren und dabei das turbulente abendländisch-jüdische Verhältnis vortrefflich zu beleuchten.

Peter Schäfer: Die Schlange war klug: Antike Schöpfungsmythen und die Grundlagen des westlichen Denkens. München: C.H. Beck, 2022, 448 Seiten, € 34,00.


Nachtrag 24. März 2023

Ohne auf das Buch von Schäfer Bezug zu nehmen, bricht Norbert Bolz im Magazin “Cato” eine Lanze für die Erbsünde: “Die Erbsünde ist die Bedingung der Möglichkeit von Selbsterkenntnis, denn diese interpretiert die Selbstbehauptung als Verstocktheit gegen den Anspruch Gottes.” Daraus folgt für Bolz, dass der Mensch das göttliche Gesetz einzuhalten habe, ohne in Selbstgerechtigkeit zu verfallen. Paulus als eigentlicher Stifter des Christentums geniesst seine Sympathie.

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