Wir leben in einer postfaktischen Welt, wird oft beklagt, und es ist nicht ganz verkehrt: Selbst renommierte Medien und universitäre Fachbereiche fallen auf Blender und Scharlatane herein, weil man glaubt, dass von der ethnischen Herkunft des Sprechers auf dessen Qualifikation zu schliessen sei – ein fataler Irrtum, für den der „Spiegel“ ein aktuelles Beispiel liefert.

Der indische Literaturwissenschaftler Pankaj Mishra , der mit seinem Bestseller „Aus den Ruinen des Empires“ damals auch vom deutschen Feuilleton mit viel Lob bedacht wurde, obwohl seine Darstellung westasiatischer Geschichte noch nicht einmal als Sammlung von Halbwahrheiten bezeichnet werden kann, hat das grosse Privileg, Vertreter des sogenannten Globalen Südens zu sein.
Damit darf er Fakten der Globalgeschichte kreativ handhaben, ohne dass man ihm dies im Globalen Norden ankreiden würde. Schliesslich geht es bei aussereuropäischen Kulturen primär nicht um Fakten, sondern um Narrative, die als Ausdruck vermeintlich marginalisierter Völker zu respektieren sind und Kritik an ihnen sich tunlichst verbietet.
Mythos von einer friedenswilligen Hamas
In dem Interview, das der Spiegel“ mit dem Inder Pankaj Mishra anlässlich seines neuen Buches geführt hat, in dem es um den Gaza-Krieg geht, dreht sich denn auch alles um eine vermeintlich asiatische Perspektive. Zwar räumt Mishra Israel nach dem Massaker vom 7. Oktober ein Recht auf Selbstverteidigung ein, kassiert dieses Zugeständnis aber wieder, indem er die Hamas in die Nähe antikolonialer Befreiungsbewegungen rückt.
Dass die Hamas einer Zweistaatenlösung zugestimmt habe, wie Mishra behauptet, ist leicht zu widerlegen, aber der „Spiegel“ bleibt gefügig und macht keine Anstalten, ihm zu widersprechen. Mishra ist nicht der erste, der dem Mythos von einer friedenswilligen Hamas und sich damit zum Apologeten einer Terrororgansiation macht, die seiner Ansicht nach nur der als solche bezeichnen kann, der „die Geschichte aus der Perspektive der westlichen oder weißen Vorherrschaft betrachtet“.
In Wahrheit bedarf es keiner solchen oder einer anderen Perspektive und es bedarf noch nicht einmal des Verweises auf den Holocaust, um mit Israel solidarisch zu sein. Es bedarf der schlichten Einsicht, dass niemand das verdient, was die Hamas so vielen Menschen, überwiegend jüdischen Israelis, darunter Frauen und Kinder, am 7. Oktober 2023 angetan hat, ohne von Israel angegriffen worden zu sein. Um das zu verstehen, ist keine historische Blaupause vonnöten.
Israel soll auch für Aufstieg der AfD verantwortlich sein
Mishra wirft westlichen Medien – die er offenbar alle eingehend studiert hat – vor, nicht „angemessen über das Leiden der Palästinenser“ zu berichten, doch selbst wenn das wahr wäre, müsste er sich die Frage stellen, ob das Leiden der arabischen Bevölkerung im Gazastreifen nicht ebenso auf das Konto der Hamas ginge wie das Leiden der Israelis auch. Stattdessen macht Mishra Israel noch für den Aufstieg der AfD verantwortlich: Weil es einen Genozid begehe und Deutschland qua Solidarität sich mitschuldig mache, gingen Moral und Anstand verloren und würde es extremen Parteien den Boden bereiten.
Der „Spiegel“ versucht einige Behauptungen von Mishra zu kontern, aber er erkennt nicht die Unmöglichkeit dieses Unterfangens. Schliesslich wird Mishra als Vertreter einer asiatischen bzw. global-südlichen Perspektiv befragt, nicht als Nahost-Fachmann, der er nicht ist. Er ist weder Korrenspondent noch Historiker, weder Politikwissenschaftler noch Orientalist, sondern bezieht seine Autorität allein aus seiner Herkunft.
Das befähigt ihn auf eine magisch-mystische Weise, Ereignisse im Gazastreifen als einem Teil des Globalen Südens zu deuten und einzuordnen und Verständnis für deren Menschen zu wecken, sofern sie keine Israelis sind. Für Mishra dürfte denn auch das Hamburger Magazin wohl kaum mehr als den weissen, ewig-kolonialen Norden repräsentieren. Das ist nun wirklich Pech für den „Spiegel“, der sich so bemüht hat, immerzu kritisch über Israel zu berichten.