Viele scheinen nicht zu verstehen, was Juristen machen, zumal Verfassungsjuristen, die mitnichten einfach ihre persรถnliche Meinung kundtun, wenn sie schwer verstรคndliche Texte verfassen, die mit Fussnoten gespickt sind. Vielmehr geben Verfassungsjuristen eine Einschรคtzung darรผber ab, was in einer bestimmten Problemstellung mit der Verfassung vereinbar oder nicht vereinbar ist oder sich in einer Grauzone befindet.

Aktuell ist die Causa Brosius-Gersdorf in aller Munde. Die Juristin sollte auf Wunsch der SPD zur Verfassungsrichterin gewรคhlt werden und scheiterte bekanntlich am Widerstand eines Grossteils der CDU-Abgeordneten, die sich ihr verweigerten. Dem vorausgegangen war jede Menge Polemik konservativer und rechtspopulistischer Medien. Dann kam auch noch ein Plagiatsprรผfer hinzu und Frauke Brosius-Gersdorf schien erledigt.
Doch bei nรคherem Hinsehen zeigt sich: Die Vorwรผrfe sind konstruiert. Da ist zum einen die Behauptung, die auch von der AfD kolportiert wurde, Brosius-Gersdorf befรผworte Abtreibungen bis kurz vor der Geburt, weil sie dem Fรถtus das Recht auf Menschenwรผrde abspreche. Das Zitat โDie Annahme, dass die Menschenwรผrde รผberall gelte, wo menschliches Leben existiert, ist ein biologistisch-naturalistischer Fehlschlussโ ist zwar korrekt, die Schlussfolgerung ist es dennoch nicht.
Menschenwรผrde vs. Grundrecht auf Leben
Denn Brosius-Gersdorf erkennt dem Fรถtus seit der Nidation ein Grundrecht auf Leben zu, das um so schwerer wiegt, je nรคher der Zeitounkt der Geburt rรผckt. Der springende Punkt aber ist, dass die Juristin hier nicht ihre persรถnliche Meinung sagt, sondern nur die von der Verfassung gesetzten Grenzen eines straffreien Schwangerschaftsabbruchs auslotet. Fachleute mรถgen darin vielleicht eine Ungereimtheit entdecken oder auch nicht, aber um die persรถnliche Meinung der Verfassering geht es trotzdem nicht.
Bei einem anderen Thema, nรคmlich dem staatlichen Umgang mit Bรผrgern, die sich nicht gegen Covid haben impfen lassen wollen, versteigt sich der Plagiatsprรผfer Stefan Weber in der โWeltโ zu der Behauptung, Brosius-Gersdorf plรคdiere fรผr โeine Art Strafzahlung fรผr unheilbar Krankeโ. Auch hier ist das Zitat korrekt, aber nicht die Schlussfolgerung, wie jeder wissen kann, der jenes im Kontext zu lesen bereit ist.
Wenn Brosius-Gersdorf schreibt: โDie Einfรผhrung einer zumutbar und gleichheitskonform gestalteten neuen Vorschrift zur Beteiligung von Versicherten an den Kosten ihrer coronabedingten Krankenbehandlung bei Nichtimpfung gegen Covid-19 ist verfassungsrechtlich machbarโ dann heisst das genau das, was es heisst, nรคmlich dass eine solche Vorschrift nicht gegen die Verfassung verstiesse. Wie sie persรถnlich dazu steht, ist unerheblich und geht aus dem Text gar nicht hervor.
Noch einmal: Verfassungsjuristen nehmen Einschรคtzungen รผber die Rechtskonformitรคt staatlichen Handelns vor. Ihre Einschรคtzungen sind nicht mit persรถnlichen Ansichten darรผber zu verwechseln, was die Politik tun sollte und was nicht. Brosius-Gersdorfs Argumention erfolgt vor dem Hintergrund eines Interessenkonflikts, indem einerseits fรผr Kranke der von der Verfassung gebotene Gleichheitssatz gilt, andererseits der Gesetzgeber vor dem Problem steht, dass die Gesundheitskosten seit langem schon aus dem Ruder zu laufen drohen.
Wem das Blut in den Adern gefriert
Fรผr die Juristin ergibt sich daraus die Frage, unter Berรผcksichtigung welcher Aspekte (Erforderlichkeit, Eignung etc.) eine stรคrkere Einzelbeteiligung fรผr an Covid erkrankte Nicht-Geimpfte verfassungsrechtlich mรถglich ist und urteilt: โVerfassungsrechtlich steht dem Gesetzgeber grundsรคtzlich ein Gestaltungsspielraum zu, ob er eine solche neue Kostenbeteiligungsvorschrift einfรผhrt.โ Auch hier sagt sie nicht ihre persรถnliche Meinung, sondern รคussert sich zur Frage der rechtlichen Rahmenbedingungen einer hypothetischen Vorschrift.
Wenn Weber schreibt, dass sich in dieser Argumentation โein Menschenbild offenbart, das zumindest mir das Blut in den Adern gefrieren lรคsstโ, dann zeigt er damit nur, dass er nicht verstanden hat, worin die Arbeit von Juristinnen und Juristen eigentlich besteht. Mag sein, dass andere Verfassungsrechtler zu anderen Schlussfolgerungen gelangen als Brosius-Gersdorf, dennoch offenbart sich in ihren Ausfรผhrungen kein wie auch immer geartetes Menschenbild.
Eher leicht wiegt auch der Vorwurf der โCollusionโ (nicht-deklarierten Zusammenarbeit) im Falle ihrer Doktorarbeit, die thematisch grosse รhnlichkeit mit der Doktorarbeit ihres Mannes aufweist. Weber ist sich selbst nicht sicher, inwieweit 23 von ihm markierte Textstellen den damals gรผltigen Zitiernormen unter Juristen entsprechen. Zu fragen wรคre jedoch, ob beide Doktorrbeiten hinreichend Originalitรคt besitzen, um als je selbststรคndige akademische Leistung anerkannt zu werden. Dies werden die kommenden Wochen zeigen.
Merkwรผrdig mutet allerdings an, dass Weber urteilen zu kรถnnen glaubt: โGesellschaftlich relevant sind diese Dissertationen kaum einmal.โ Unklar bleibt, ob sich dies nur auf die Doktorarbeiten von Brosius-Gersdorf und ihren Mann bezieht oder auf einen Grossteil juristischer Doktorarbeiten, doch letztes Endes spielt das keine Rolle. Weber sollte wissen, dass Doktorarbeiten in den seltensten Fรคllen โgesellschaftlich relevantโ sind (was immer man darunter verstehen mag), sondern wissenschaftlich relevant zu sein haben.
Neutralitรคts- vs. Mรคssigungsgebot
Weber bringt dann noch die โmuslimische Geschlechtertrennung in Hรถrsรคlenโ ins Spiel, wie sie zeitweise bei einer Veranstaltung der Berliner Charitรฉ durchgesetzt wurde, erklรคrt aber nicht, was das nun mit Brosius-Gersdorf zu tun haben soll. Tatsรคchlich hat diese in einem Beitrag fรผr den «Tagesspiegel» zur Abwechslung einmal ihre persรถnlche Meinung geรคussert, als sie dafรผr plรคdierte, auch Kopftuch tragende Musliminnen sollten Richterin oder Staatsanwรคltin werden dรผrfen. Diese Ansicht muss man wahrlich nicht teilen.
Deswegen wird aus ihr aber noch keine Befรผrworterin einer โmuslimischen Geschlechtertrennung in Hรถrsรคlenโ. Denn wรคhrend ihrer Einschรคtzung nach das Neutralitรคtsgebot dem Kopftuch im รถffentlichen Dienst nicht entgegensteht, sorge das Mรคssigungsgebot dafรผr, dass damit kein Werben fรผr die Religion einhergeht, die das Vertrauen der Bรผrger in den Staat beschรคdigen kรถnnte.
So richtig vermag die Argumentation zwar nicht zu รผberzeugen, denn ein die persรถnliche Erscheinung derart dominierendes Symbol wie das Kopftuch wird sicherlich von vielen Bรผrgern als genau das verstanden, nรคmlich als Werben, indem die Person im Gerichtssal zunรคchst als Angehรถrige einer bestimmten Religion und dann erst als Richterin oder Staatsanwรคltin wahrgenommen wird. In der Frage des Kopftuchs im รถffentlichen Dienst ist Deutschland daher gespalten.
Deswegen ist das Plรคdoyer von Brosius-Gersdorf aber auch kein Skandalon. Im ganzen gesehen sind die Vorwรผrfe gegen sie zum Teil schwach, zum Teil haltlos. Die gegenwรคrtig tobende Debatte ist einer Aufgeregtheit geschuldet, die vรถllig รผberzogen scheint und man mรถchte allen Beteiligten zurufen, erst einmal tief durchzuatmen, bevor sie die Juristin coram publico ins Fadenkreuz ihrer Empรถrung nehmen.
Nachtrag 22. Juli 2025
Der Publizist Richard Herzinger verweist auf eine Studie der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, wenn er «Einfluss-Netzwerke des russischen Regimes» bezichtigt, mit «gezielt gestreuten Lรผgen, Verleumdungen und aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten» eine Kampagne gegen Brosius-Gersdorf gefahren zu haben, deren Ziel es sei, die deutsche Regierung wegen ihrer ukrainefreundlichen Haltung zu schwรคchen.
