Gewalt im Namen der Religion

Stellen Sie sich vor, Sie möchten Näheres darüber erfahren, warum Japan erdbebengefährdet ist. Sie fragen also einen Spezialisten, einen Geologen – und der sagt Ihnen: “Ja, aber San Francisco doch auch. Denken Sie nur an das Erdbeben von 1906!” Würden Sie sich mit dieser Antwort zufriedengeben?

Sicherlich nicht. Aber viele Menschen geben sich mit solcher einer Antwort zufrieden, wenn es um den Islam ging. Wieso eigentlich ist die Islamische Welt so instabil, kommt nicht zur Ruhe und wird immer wieder vom religiösen Fanatismus geschüttelt? Antwort: Aber das hat es im Christentum doch auch gegeben!

Ganz genau: Hat es gegeben. Natürlich gibt es Gewalt nicht nur im Namen des Islam, sondern auch anderer Religionen, man denke nur an die Ermordung von Abtreibungsärzten durch evangelikale Fanatiker in den USA, die blutigen Massaker durch die christliche Lord’s Resistance Army in Zentralafrika, Ausschreitungen gegen Muslime und Christen durch Hindu-Nationalisten – allesamt Beispiele dafür, dass religiös motivierte Gewalt kein rein islamsiches Phänomen ist.

Allerdings handelt es sich bei den genannten Beispielen um regional begrenzte Phänomene. Dagegen hat die Gewalt im Namen des Islam eine globale Agenda: Junge Männer und Frauen, die in einem Teil der Welt geboren wurden und in anderen Teilen der Welt in den Krieg ziehen, um dort für ihren Glauben zu sterben und ihn über den gesamten Erdball zu verbreiten – das ist derzeit einzigartig.

Bei “Foreign Policy” will man das nicht verstehen. “If Islam Is a Religion of Violence, So Is Christianity” titelt man dort. Begründung: Kreuzzüge, Holocaust. Ja, Holocaust: Der fand im “christlichen Europa” statt, also ist Christentum eine Religion der Gewalt, mehr noch, so der Subtext: Das Christentum ist eigentlich viel gewalttätiger als der Islam, der etwas den Kreuzzügen oder dem Holocaust ähnliches nie vollbracht hat.

Warum Europa heute aber so friedfertig ist (trotz des Ukraine-Konflikts), so stabil und prosperierend, sich die Islamische Welt dagegen von Krise zu Krise schleppt und die eruptiven Ausbrüche fanatisierter Gewalt nicht einzudämmen vermag – verstehen wir das jetzt besser? Verstehen wir jetzt besser, warum Europa sich so ganz anders entwickeln konnte als die Islamische Welt? Nein.

Dabei gibt es viele Ansätze, diesen Zustand, in dem die Islamische Welt sich befindet, in der Tiefe zu erklären. Sie finden nur kaum in den Weg in die Massenmedien – anders als der immer wiederkehrende Verweis auf die Kreuzzüge, die vor mehr als 700 Jahren stattgefunden haben und mit denen sich manches erklären lässt, aber gewiss nicht der heutige Dschihadismus.


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