Dschihadistische Gewalt steht im Dienste einer islamischen Ordnung. Diese Ordnung hat Voraussetzungen und ist eingebettet in eine Weltsicht, die in Begriffe wie Umma, Scharia, Kalifat, Dschihad etc. eingefasst ist. Diese und weitere Begriffe haben eine Geschichte wie auch die Gewalt im Namen des Islam eine Geschichte hat.
In der Formationszeit der islamischen Urgemeinde galt der Dschihad anfangs noch als asketisches Ideal der Selbstüberwindung (vgl. Sure 29:6, 69), bevor die medinische Gemeinde zu einer „Kämpfergemeinschaft“ (A. Neuwirth) wurde. Im Begriff des Dschihad, der den Kampf bezeichnet, klingt das asketische Ideal weiter an. Noch der IS preist die „Askese in der Welt“ (az-zuhd fi d-dunyā) als muslimisches Ideal.
Der Begriff Dschihad kommt 35 mal im Koran vor, davon 29 mal im Sinne des militärischen Kampfes und ist ein Synonym für das schon in vorislamischer Zeit gebräuchliche Wort qitāl „Kampf“. Die Prophetenvita bezeichnet die medinensischen Jahre Mohammeds als die Zeit der „Kriegszüge“ (al-maġāzī). In Buḫārīs Hadithsammlung gibt es ein „Buch des Dschihad“, das keinen Zweifel an der kriegerischen Bedeutung des Wortes lässt.
Nach dem Sieg der Muslime in der Schlacht von Badr 624, so erzählt der Koran in Sure 8:72,74, dass die Gläubigen nach Medina auswandert seien und den Dschihad gemacht haben. Wahre Gläubigkeit erweist demnach, wer dem Beispiel des Propheten folgt, bevor der Dschihad zu einer „Pflicht auf der Grundlage des Genügens“ wurde: Solange es genügend Freiwillige gibt, brauchen nicht alle Muslime in den Dschihad zu ziehen.
Dieser ist das offensive Gegenstück zum defensiven Ribāṭ, dem Halten eroberter Gebiete, und richtete sich historisch auch gegen all jene, die der Autorität des islamischen Staates entgegenstanden. Die Pflicht, Krieg gegen den äusseren, nicht-muslimischen Feind zu führen, wurde noch vom Osmanischen Reich (unter dem Begriff ghazā) praktiziert.
Damit kommen wir zum Staatsverständnis des Koran, das freilich eher vage ist. In den ersten Jahrhunderten des Islam herrschte unter den Gelehrten sogar ein Misstrauen gegenüber dem Staat vor, der als notwendiges Übel galt: al-ǧannatu wa-s-sulṭān lā yaǧtamiʿān – “Himmel und Regierung fügen sich nicht zusammen”, war die Auffassung der damaligen Zeit. Um die Mitte des 9. Jahrhunderts sollte sich unter den Rechtsgelehrten die Auffassung durchsetzen, dass der Kalif denselben religiösen Prinzipien unterworfen sein müsse wie die gesamte Umma, wobei er selbst über keinerlei religiöse Autorität verfügte.
Zwar kennt der Koran kein scharf umrissenes Konzept einer religiösen Herrschaft – Begriffe wie dawla (Staat), niẓām islāmī (islamisches System) oder ḥukūma islāmīya (islamische Herrschaft) kommen im Koran allesamt nicht vor, wie auch die Formel, der Islam sei dīn wa-dawla, Religion und Staat, neueren Datums ist. Gleichwohl weist er genügend Aspekte auf, die sich politisch deuten lassen. So spricht der Koran davon, dass das göttliche Gesetz in den Händern von „Sachwaltern‟ (ulū l-amr, pl.) liege (Koran 4:59).
Sehr viel später, nämlich 2007, wird der „Islamische Staat Irak‟ (dawlat al-ʿIrāq al-islāmīya, ISI), der Vorgänger des späteren Islamischen Staates, eine Anweisung für die Etablierung eines rechtmässigen islamischen Staatswesens veröffentlichen („Mitteilung für die Menschen zur Geburt des Islamischen Staates‟ – iʿlām an-nās bi-milād dawlat al-Islām), in der er argumentiert, dass die Gemeinde „denen, die zu befehlen haben‟ (ulū al-amr/wulāt al-amr) Gehorsam schulde.
Doch zurück zur Geschichte. Als mit Abū Muslim, der 748 seine khorasanischen Streitkräfte gen Westen geführt und das Schicksal der Umāyyaden innerhalb weniger Monate besiegelt hatte, die ʿAbbāsiden an die Macht kamen, versprachen sie den Muslimen, die medinensische Urgemeinde zum Vorbild des Reiches zu machen. Sie bauten einen hierarchisch strukturierten Verwaltungsapparat auf, in dem Richter professionelle Repräsentanten des religiösen Rechts waren.
Durch die Besetzung dieser Stellen konnten die ʿAbbāsidenherrscher auf den religiösen Diskurs und damit auf die Gesellschaft einwirken. Der islamische Staat stellte historisch gesehen daher eine Theokratie, dar, nämlich ein Gemeinwesen, das von sakralen Gesetzen regiert wurde. Herrscherliche Erlasse jedenfalls werden aus der Offenbarung abgeleitet, Repräsentation war nicht vorgesehen. Ihr Anliegen war die (autoritäre) Durchsetzung muslimischer Tugenden.
Als eine Reihe von „Sekten‟ meist nicht-arabischer Herkunft auftraten, die eine Neigung zu herterodoxen Glaubensvorstellungen hatten, gingen die ʿAbbāsiden mit Gewalt gegen diese Sekten vor. Unter dem Kalifen al-Mahdī (reg. 775-785) wurde vor allem die zanādiqa verfolgt, also Leute, denen man unterstellte, den Islam nur angenommen zu haben, um ihn zu verwässern und zu entstellen.
Der Literat Ibn al-Muqaffaʿ (727-762) musste das am eigenen Leib erfahren, als man ihm wegen vermeintlicher Ketzerei Arme und Beine abschlug (vgl. Koran 5:33). Grausam war auch das Schicksal der Barmakiden, einer iranischen Dynastie, die unter der ʿAbbāsidenherrschaft Hārūn ar-Rašīds (geb. ca. 766) die Minister stellte, bis jener in ihnen eine Bedrohung für seine Macht erkannte und sie 803 kurzerhand eliminierte.Ihre abgeschlagenen Köpfe liess er öffentlich zur Schau stellen.
Der Schariagelehrte Aḥmad Ibn Ḥanbal (780-855) war der erste, der die Idee einer Rückkehr zu den salaf (bzw. as-salaf aṣ-ṣāliḥ), den Altvorderen theologisch ausarbeitete. Die Altvorderen – zu ihnen gehören gehören die vier „rechtgeleiteten Kalifen‟ (al-ḫulafāʾ ar-rāšidūn), also Abū Bakr, ʿUmar, ʿUthmān und ʿAlī, sowie eine Reihe weiterer Personen, die sog. ṣahāba („Prophetengefährten‟, Sg. ṣahābī) – repräsentieren das goldene Zeitalter des Islam, das zur Blaupause der islamischen Weltordnung wurde.
Äussere Gefahren sorgten für mehr Repression im Inneren. Als das Imperium im 10. Jahrhundert zerfiel und sich die Sorge vor einem Scheitern des Islam verbreitete, kam es zu politischen Reformen durch Nūraddīn Zangī, den Emir von Aleppo, dessen Vater Mitte des 12. Jahrhunderts den nördlichsten der Kreuzfahrerstaaten zerschlagen hatte. Indem er den Kriegern die Eintreibung des ḫarāǧ (Grundsteuer) überliess, militarisierte er das Staatswesen und sollte später das Idol von Abū Muṣʿab az-Zarqāwīs werden, dem eigentlichen Begründen des IS.
Vor dem Hintergrund der Mongolengefahr war es der Gelehrte Ibn Taimīya (1263-1328), der die Argumentation entwickelte, dass der Gläubige ohnehin nur Gott verpflichtet sei, sodass die Frage der Herrschaft pragmatisch angegangen werden könne. Demnach dürfen sich die islamischen Länder in mehrere Herrschaftsgebiete aufteilen, solange sie sich der Durchsetzung der Scharia verschreiben. Auch hier nahm die Repression nach innen zu: Die Ibn Taymīya-Schule war gegenüber Andersgläubigen ausgesprochen intolerant, nicht zuletzt gegenüber Schiiten und Juden.
Ibn Taimīya mag eine eher randständige Figur der Theologie gewesen sein, doch bewegte sich sein Denken im Rahmen des sunnitischen Paradigmas und ist massgeblich beeinflusst von der Rechtsschule jenes Ibn Ḥanbal (780-855). Von Ibn Taimīya wiederum beeinflusst war Muḥammad Ibn ʿAbdalwahhāb (1720-1792), der auf der Arabischen Halbinsel Zeuge wurde, wie das Kalifat, nunmehr in türkischen Händen, abermals ins Wanken geraten war. Die Ursachen dafür verortete auch er in einer gesellschaftlichen Entfremdung von den Grundlagen der islamischen Moral und Gesetze, die er ebenfalls im Rückgriff auf die salaf wiederherzustellen suchte.
Die Historiker Ira M. Lapidus und Bernard Lewis haben darauf hingewiesen, dass es in den vierzehn Jahrhunderten seit dem Propheten verschiedene „fundamentalistische‟ Bewegungen im Islam gegeben hat, die allesamt fanatisch, intolerant, aggressiv und gewalttätig waren und von charismatischen Figuren von den Rändern der Gesellschaft angeführt wurden. Nach Ibn ʿAbdalwahhāb sollte alles, was nicht dem tauḥīḍ, dem Einssein Gottes, entspricht, als širk (Heidentum) oder bidʿa (unzulässige Neuerung) bekämpft werden.
Auch der erste islamische Gottesstaat der Neuzeit, der sudanesische Mahdi-Staat Ende des 19. Jahrhunderts, fällt in dieses Schema und auch er praktizierte das Köpfen, das wir schon aus den Jahrhunderten zuvor kennen. So wurde dem britischen General Charles Lord Gordon, der als Generalgouverneur des Sudan in die Dienste der türkisch-ägyptischen Regierung getreten war, nach dem Fall von Khartum 1885 durch die Anhänger des Mahdi der Kopf abgeschlagen und als Trophäe in ein Tuch gewickelt dem Mahdi Muḥammad Aḥmad überbracht.
Muḥammad Aḥmad verdammte die türkische Herrscherschicht, wie auch die Gelehrten, die für ihn „Weltkinder‟ waren und die die „Weltliebe‟ trunken gemacht habe. Für die Anhänger des Mahdi waren weltliche Güter nur „Schmutz der Welt‟, die sie daran hinderte, die wahren Freuden des Paradieses zu erkennen. Auch das geht auf den Koran zurück, der die Gläubigen ermahnt, nicht an der Welt festzuhalten und denjenigen, die der Versuchung widerstehen, einen Lohn im Jenseits in Aussicht stellt (64:15).
Viele Elemente des heutigen Dschihadismus finden sich nicht nur im Koran, sondern lassen sich bis tief in die islamische Geschichte hinein zurückverfolgen. Damit soll nicht gesagt sein, dass der Islam nur in einer fundamentalistischen Deutung denkbar sei, denn wie jede sakrale Schrift bietet auch der Koran (von anderen autoritativen Quellen nicht zu reden) eine gewisse Spannweite an möglichen Interpretationen. Man unterschätzt jedoch den heutigen Dschihadismus, wenn man ihn zu einer blossen Erfindung jüngeren Datum erklärt. Wie Cook (2014) deutlich gemacht hat, entspringt der Aufstieg des Dschihadismus der Vorstellung von einer religiösen Pflicht, die als Teil des religiösen Erbes empfunden wird.
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Der Text bildet die gekürzte und geringfügig überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Verfasser unter dem Titel “Islamische Ideengeschichte und islamische Gewaltdiskurse: Grundlagen der Dschihad-Ideologie” am 30. Mai 2017 auf einer Tagung der Karl-Arnold-Stiftung in Königswinter vor Soldaten der Bundeswehr gehalten hat.