Im Jahr des Tigers – 在虎年

Die chinesische Religionsgeschichte steckt voller Widersprüche. Trotz verbreiteter Volksfrömmigkeit und obwohl China seit langem Heimstätte verschiedener Religionen ist, wird dem Land häufig „Religionslosigkeit‟ nachgesagt, weil die chinesische Religiosität so ganz anders ist als die abendländische, nämlich sehr viel stärker dem Weltlichen zugeneigt.

Auch war schon früh, etwa seit dem 6. Jahrhundert, eine allgemeine Skepsis gegenüber dem Wirken übernatürlicher Kräfte aufgekommen. Darauf weist der Sinologe Helwig Schmidt-Glinzer hin. Der Konfuzianismus hatte um der breiten Masse willen religiöse Strömungen in sich aufgenommen, ohne jedoch selbst Religion zu werden.

Daraus resultiert eine „starke integrationistische Dynamik innerhalb der chinesischen Kultur‟ (Schmidt-Glinzer), die dazu neigt, die verschiedenen Religionen als Ausdruck einer einzigen Religiosität zu betrachten, wobei der Staat die Oberhand behält und noch heute den Anspruch verfolgt, einerseits die Religionsausübung in einem gewissen Rahmen zu gewährleisten, sie aber zugleich zurückzudrängen.

Das hat nicht nur mit der Ideologie der Kommunistischen Partei zu tun, sondern auch mit der historischen Erfahrung, dass religiöse Massenbewegungen häufig zu Aufständen geführt haben. Diese sind, wie Schmidt-Glinzer erklärt, im kollektiven Bewusstsein sehr präsent. Während sich der Staat seit Konfuzius weitgehend von der Religion ferngehalten hat, wurden vermittelnde Kräfte in Politik und Gesellschaft umso wichtiger.

Womit wir beim chinesischen Neujahrsfest sind, mit dem nach dem chinesischen Kalender ein neues Jahr beginnt: Das Jahr des Tigers. Das Neujahrsfest integriert Elemente aus Daoismus, Konfuzianismus und Buddhismus miteinander, die aber mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt werden. Das erinnert an manche Entwicklung im Westen, man denke nur z.B. an das christliche Weihnachtsfest.

Apropos Christentum: Es gibt Schätzungen, nach denen in einigen Jahrzehnten zwanzig bis dreissig Prozent der Chinesen Christen sein könnten. Darauf hat schon vor geraumer Zeit die China-Korrespondentin Petra Kolonko hingewiesen. Das ist vor allem deshalb pikant, weil Christen in oppositionellen Bewegungen Chinas überproportional vertreten sind – was ins Bild vom Unruhepotential religiöser Bewegungen passt.

Da in China das Diesseits, die Gegenwart und die Chance auf bestmöglichen Erfolg zum richtigen Zeitpunkt zählen, wie der Sinologe Marcus Hernig konstatiert, lassen sich konfessionelle und soziale Gräben eigentlich leicht überwinden. Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die chinesische Regierung vielfach auf Konfrontationskurs ist. Xinjiang, Taiwan oder Litauen werden uns in diesem Zusammenhang noch lange beschäftigen.

Allen Leserinnen und Lesern viel Glück und Wohlstand im Jahr des Tigers!

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