Als Europa und Asien gewaltsam getrennt wurden

Zum hundertjährigen Jubiläum des Vertrags von Lausanne

Zwischen 1920 und 1922 kam es an der östlichen Grenze des europäischen Kontinents zu Gewaltausbrüchen, die das Gesicht der Region für immer verändern sollten: Bis zu 1.500.000 griechische Christen, die in der Türkei lebten, und bis zu 600.000 türkische Muslime, die in Griechenland lebten, wurden vertrieben. Die Jahrtausende alte griechische und christliche Präsenz in Kleinasien fand ihr Ende. Der Traum von der „Grossen Idee“ einem Griechenland der zwei Kontinente, war ausgeträumt.

„Road over the Balkan Mountain from Views in the Ottoman Dominions, in Europe, in Asia, and some of the Mediterranean islands (1810) illustrated by Luigi Mayer (1755-1803).“ von New York Public Library/ CC0 1.0

Der griechische Staat war der Konkursmasse des Osmanischen Reiches auf dem Balkan hervorgegangen, umfasste aber nur einen Teil des historischen Siedlungsgenietes der Griechen, Smyrna (Izmir) und Konstantinopel (Istanbul) einzugliedern, wurde das Ziel, wobei immer unklar blieb, wie weit ins Landesinnere sich der griechische Staat ausdehmen sollte. Mit Eleftherios Venizelos, der während des 1. Weltkriegs nach heftigen innenpolitischen Wirren Ministerpräsident Griechenlands geworden war, hatte die „Grosse Idee“ die Spitze der Politik erreicht.

Mitten im Krieg wird der griechische Ministerpräsident abgewählt und die Generäle übernehmen

Venizelos schickte den deutschlandfreundlichen König Konstantin ins Exil und orientierte sich an der Triple Entente aus Grossbritannien, Frankreich und Russland, das gegen das Deutsche Reich und später das Osmanische Reich gerichtet war. Schon 1918 waren hunderttausende Christen aus Kleinasien vertrieben worden, im Mai des darauffolgenden Jahres verschaffte nach heftigen Kämpfen in Thrakien ein Waffenstillstand den Griechen eine Atempause, bevor sie Smyrna (Izmir) besetzten und gewaltsam gegen die türkische Zivilbevölkerung vorgingen. In der Folge wuchs der Hass der Türken auf ide Griechen, von denen sie fast eine halbe Million vertrieben.

Vor allem am Schwarzen Meer, dem Pontos Euxeinos der Antike, kam es zu erheblichen Verwüstungen, am meisten in Trapezunt, das zu einem Drittel zerstört und dessen Rest stark beschädigt wurde, während seine Einwohner, Christen wie Muslime, in grosser Zahl vertrieben wurden oder flüchteten. Eine britische Depesche aus der Zeit vermeldet, die gesamte Atmosphäre in der Provinz sei geprägt von Verfall, Elend, Hunger und Angst. Pläne einer Selbstverwaltung der Griechen und Armenier hatten sich erledigt, die überlebenden Christen der Schwarznmeerregion waren nach den Gewaltexzessen zu wenige, um politische Strukturen errichten zu können.

Unterdessen organisierten sich in Kleinasien die türkischen nationalistischen Kräfte, die 1919 Nationakongresse unter der Führung von Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, abhielten. Selbst im entfernten Kairo hatten nationalistische protürkische Gruppen hunderte von Angriffen allein auf Armenier und armenisches Eigentum zu verantworten, während die Gelehrten der islamischen Azhar-Hochschule sich nach Kräften bemühten, nicht nur Armenier, sondern auch Juden und Kopten, Italiener und Griechen, die ebenfalls bedroht waren, zu beschützen.

Muslimische Geistliche beschützen Christen vor den Exzessen der Jungtürken und ihrer Sympathisanten

Laut Sir Thomas Hohler, einem Staatssekretär im britischen Hochkommissariat, hatte die muslimische Bevölkerung Kleinasiens mindestens sowiel Gewalt erleiden müssen wie die christliche, wobei erst die griechische Besetzung Smyrnas dazu geführt habe, dass eine türkische Widerstandsbewegung entstand. Mustafa Kemal sei über alle Massen populär, berichtet Hohler, doch drohe er eine Richtung einzuschlagen, an deren Ende die Auslöschung des kleinasiatischen Christentums stehen könne. Auch im irakischen Mossul hatte es Massaker an nestorianischen und anderen Christen gegeben und leistete Grossbritannien humanitäre Hilfe für dreissig- bis vierzigtausend christliche Flüchtlinge.

Als mit dem Friedensvertrag von Sèvres 1920 Smyrna an Griechenland gehen sollte, schien dies ein grosser Sieg für Griechenland, der jedoch nur von kurzer Dauer war. Zunächst liess Venizelos Truppen schicken, um die Stadt abzusichern, wurde dann jedoch abgewählt und verliess das Land, woraufhin sich der griechische Generalstab zu einem selbstmörderischen Unterfangen entschloss und die Gelegenheit nutzte, auf Ankara vorzumarschieren. Der so glorreich begonnene „Zug am Fluss Sangarios“ (trk. Sakarya) geriet zu einem völliger Desaster. Die Streuuung der griechischen Truppen machten sie anfällig für gegnerische Vorstösse durch türkische Freischärler und so war es nur eine Frage der Zeit, bis der Vormarsch in sich zusammenbrach.

Im Sommer 1922 waren die griechischen Heere bis weit in den europäischen Teil der Türkei zurückgedrängt worden, wo die spätere Waffenstillstandslinie von Mudunya verlief. Smyrna war endgültig verloren, ebenso Konstantinopel, die alte Hauptstadt des byzantinischen Reiches. Als Smyrna in türkische Hände fiel, bereitete der von Mustafa Kemal ernannte neue Bürgermeister der Stadt, Nureddin Pascha, den französischen General Dumesnil, dessen Kriegsschiffe im Hafen vor Anker lagen, auf die kommenden griechischen und armenischen Flüchtlinge vor. Was dann kam, war ein neuerlicher Exzess der Gewalt. Während in der Stadt ein grosses Feuer wütete, flohen Armenier, Griechen und Europäer zum Hafen, wo sie versuchten, auf die Schiffe gelangen.

Wer trägt die Schuld?

In einer 1922 angefertigten privaten Denkschrift weist ihr Verfasser, der griechische Priester Michel Zayerlis, den Deutschen einer erhebliche Mitschuld an diesem Desaster zu, hätten sie doch Panislamismus und Kalifat als Schreckgespenster gegen die Triple Entente beschworen und den Türken geholfen, das Griechentum in Thrakien zu beenden, indem sie den griechischen König Konstantin mit viel Geld kauften, um Griechenlands Streitmacht daran zu hindern, der Entente zur Seite zu stehen.

Der Friedensvertrag, der am 24. Juli 1923 im schweizerischen Lausanne geschlossen wurde und den türkisch-griechischen Krieg beendete, legitimierte die fortan „Bevölkerungsaustausch“ genannten Vertreibungen im Nachhinein. Dazu gehörte auch, dass insgesamt 600.000 Muslime Griechenland verlassen mussten. Für die türkische Seite galten die Ereignisse der Jahre 1920-22 als „Freiheitskampf“, der am 13. Oktober 1923 in die Gründung der türkischen Republik mit Ankara als neuer Hauptstadt mündete. Für die Griechen indes wurde aus der „Grossen Idee“ die „Kleinasiatische Katastrophe“.

Griechische Flüchtlinge aus dem Pontos und anderen Regionen Kleinasiens pflegen bis heute ihre Traditionen, die Zeugnis geben von einer Zeit, als die Kulturen vielfach vermischt waren. Der Athener Stadtteil „Nea Smyrni“ (Neu-Smyrna) ist ebenfalls ein Ergebnis des Flüchtlingsstromes. Ein Jahr nach Gründung der türkischen Republik wurde in Griechenland per Referendum die Monarchie abgeschafft und König Georg II. abgesetzt. Beide Länder wurden lange Zeit von einer westlich orientierten Elite angeführt, die es möglich machte, dass Griechenland und die Türkei einander annäherten.

Mittlerweile ist die kemalistische Elite der Türkei ins Hintertreffen gegenüber einer Landbevölkerung geraten, für die der sunnitische Islam eine ungleich grössere Rolle spielt als die Ideale eines Atatürk. Es mag gute Gründe geben, die Ablösung der Grossreiche durch eine nationalstaatliche Ordnung als Fortschritt und Voraussetzung für demokratische Strukturen zu begrüssen, doch der Preis war immens. Seit einhundert Jahren sind Europa und Asien getrennt, Kleinasien ist kein Raum des Übergangs mehr.


Literatur

Kreutz, Michael. 2013. Das Ende des levantinischen Zeitalters: Europa und die Östliche Mittelmeerwelt, 1821-1939. Hamburg: Kovac ¶ Mit viel Archivmaterial.

Translate