Schief und krumm, irgendwie zusammengezimmert, dazu schwerfälig und ineffizient – das ist das Bild, das die Skeptiker von der EU zeichnen und in der Tat ist Kritik an ihrer Interventionspolitik mehr als berechtigt. Dennoch sollten wir die Wahl nutzen, die Europäische Union zu stärken und gegen populistische Kräfte von rechts und links zu befestigen.
Dazu hat ausgerechnet ein Vertreter der „GrĂĽnen“ das so ziemlich Gescheiteste geschrieben, das auf dem Markt der Ideen zu finden ist. In seinem vor nunmehr fast zwanzig jahren erschienenen Buch „Die RĂĽckkehr der Geschichte“ erklärt Joschka Fischer, was die EU zu einem Friedensprojekt macht, nämlich die Ăśberwindung einer Staatenordnung, die von Hegemonialmächten geprägt war. Dazu mĂĽssen die grösseren, wirtschaftlich stärkeren Staaten eine Schwächung ihrer Souveränität akzeptieren.
Diese Politik ist durchaus keine Einbahnstrasse, sondern die Voraussetzung für Frieden und Wohlstand aller beteiligten Länder. Deswegen geht auch die gelegentlich anzutreffende Behauptung, Deutschland sei ein unwilliger Hegemon, an den Tatsachen vorbei. Um ein Hegemon zu sein, müsste es anderen Staaten in der Umgebung seine Normen aufzwingen können, was nicht der Fall ist. Bislang jedenfalls hat sich Deutschland weder in der Flüchtlingsfrage noch in der Energiepolitik durchsetzen können.
Natürlich verfügen nicht alle Mitgliedstaaten über denselben Einfluss und haben Deutschand und Frankreich in der Union mehr Gewicht als Malta oder Luxemburg. Aber keinem Land kommt eine hegemoniale Stellung zu, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Das sollten sich all diejenigen vergegenwärtigen, die zur AfD neigen und von einer multipolaren Welt träumen. Eine multipolare Welt wäre wesentlich instabiler und hätte den autoritären Staaten Russland und China weniger Geschlossenheit entgegenzusetzen.
Im Umfeld der AfD träumt man von Europa als einem Kontinent, der sich am Hegemon Russland orientiert und sich als dessen Wurmfortsatz begreift. Diese Vorstellung ist noch nicht einmal neu, man findet sie bereits bei dem französischen Philospphen Paul ValĂ©ry, der Europa als westliche Halbinsel Asiens bezeichnete, oder dem Deutschen Friedrich Nietzsche, fĂĽr den Europa nur das „vorgeschobene Inselchen“ Asiens war.
In der Vision der AfD soll Deutschland dann der Primus in der Gruppe der russischen Vasallenstaaten werden und damit einen Sonderweg einschlagen, der es vom Westen wegführt. Das trifft sich natürliich mit der eurasiatischen Ideologie russischer Slawophiler, für die der Westen ein Kontinent des Niedergangs ist. Wer mit dieser Anschauung kokettiert, möge gerne die AfD wählen. Wer noch einen Funken Verstand besitzt, der stärke bitte die Europäische Union.
Die EU darf kein Bundesstaat werden, muss aber mehr als eine Wirtschafts-union sein
Deswegen glaubt Fischer auch nicht an eine Union der flexiblen Geometrie, weil er fĂĽrchtet, diese könnte in die Hegemonie eines einzelnen Staates mĂĽnden. Diesen Punkt kann man bestreiten. Wir haben auf diesem Blog ganz anders argumentiert und auf wirtschaftliche GrĂĽnde verwiesen, muss sich die EU doch in Konkurrenz zu anderen Wirtschaftsräumen bewähren. Aber vielleicht hat Fischer auch recht, wer weiss. Er bekennt sich jedenfalls zur Marktwirtschaft – durchaus keine Selbstverständlichkeit fĂĽr ein Mitglied der „GrĂĽnen“.
Seine Position verdient Beachtung und sollte Gegenstand einer öffentlichen Diskussion um die Zukuft der Union sein. Wer nun aber meint, Fischer vertrete die typisch linke Position einer immer weiter zusammenwachsenden Europäischen Union, der irrt. Der Vision eines europäischen Bundesstaates (Einheitsstaates) erteilt er eine deutliche Absage. Denn, wie er zu recht hervorhebt, ist Europa der Kontinent, auf dem erstmals die Idee des souveränen Nationalstaates Gestalt angenommen hat.
Die Nationalstaaten sind, wenngleich relativ jungen Datums, historisch gewachsen; die Idee eines europäischen Bundesstaates – sie stammt aus dem Italien des 19. Jahrhunderts – hätte daher keine Chance. Bislang jedenfalls haben sich die Nationen des Kontinents jeder Hegemonie und jedem Einheitsstaat widersetzt. Der Historiker Heinz Schilling sieht darin sogar eine der „Grundkonstanten Europas“ seit dem Mittelalter.
Die Europäische Union bildet diesen Zustand ab. Sie ist voller Antagonismen, oft sperrig und tapsig und manches an ihr reformbedürftig. Das Europäische Parlament, dessen Zusammensetzung wir am Sonntag wählen, ist das grösste transnationale Parlament der Welt mit allen Vor- und Nachteilen, die eine solche Grössenordnung mit sich bringt. Was die Vorteile betrifft, so sprechen Stabilität und Akzeptanz der Union eine klare Sprache.
„Denn es gehört zu den Grundkonstanten Europas, dass seine Völker und Staaten keine … alle Länder und Regionen ĂĽberspannende Einheitsherrschaft, keinen Einheitsstaat dulden.“ (Heinz Schilling, Historiker)
Was die Nachteile betrifft, so wird man diese ja nach politischem Lager anders sehen. Nicht zu bestreiten ist, dass die Union immer sklerotischer wird. Die FAZ nennt „Verordnungswut“ und „Profilierungsdrang der einzelnen EU-Kommissare“ als Ursachen. In BrĂĽssel und Strassburg, wo die Gesetze gemacht werden, spricht man vom Prinzip des „Weihnachtsbaumes“, wobei jede beteiligte Instanz an einen Entwurf noch etwas daranhängt. Humor haben sie ja.
Manch einer mag nun auf die Idee verfallen, ein Rückbau der Union zu einer blossen Wirtschaftsgemeinschaft sei das Mittel der Wahl, um sie wettbewerbsfähiger zu machen. Paradoxerweise könnte aber das Gegenteil richtig sein, nämlich mehr Kompetenzen in Brüssel zu bündeln – ohne freilich aus der Union einen Bundesstaat zu machen. Von beiden Extremen müssen wir uns fernhalten. Ob dieser Mittelweg beschritten wird, entscheidet über die Zukunft der Union.
Literatur
Joschka Fischer. Die Rückkehr der Geschichte: Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005.
Heinz Schilling. Karl V.: Der Kaiser, dem die Welt zerbrach. MĂĽnchen: C.H. Beck, 2020.
Nachtrag 8. Juni 2024
Ein Kommentar in der „Welt“ bringt den Zustand der Europäischen Union seit dem Brexit auf den Punkt: „Man wurstelt ohne Elan und ohne Vision, dafĂĽr aber finanziell bestens gepolstert, weiter wie bisher, was sich beim Scheitern auch nur der kleinsten Wahlrechtsreform deutlich zeigt.“ Kein Wunder, so Kommentator Dirk SchĂĽmer, dass sich die BĂĽrger von der EU abwenden.
Ein Kommentar in der taz zeigt am Beispiel Ungarn ein weiteres Problem der EU auf: „Man darf als Regierung eines Mitgliedsstaats autoritär, antidemokratisch und offen rechtsextrem sein, solange man sich den auĂźen- und wirtschaftspolitischen Leitlinien anpasst.„