Europäische Verflechtungsgeschichten

Die heutigen Nationalstaaten sind vielfach auf dem Boden von Grossreich, die im 19. Jahrhundert den Zenit ihrer Macht überschritten hatte. Wenn der Kreml von einer bipolaren Weltordnung spricht, dann will er diese Ordnung zurückholen: Eine Ordnung, in der Grossreiche von Vasallenstaaten umgeben werden und das Recht des Stärkeren gilt – zumindest im überwiegenden Teil der Welt. Der Krieg in der Ukraine ist damit auch ein Konflikt über die künftige Weltordnung.

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Leere Phrasen für die Ukraine

Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock reist nach Kiew und hat im Gepäck nur leere Phrasen: Man stehe ganz auf Seiten der Ukraine, nur Waffen zur Selbstverteidigung gegen eine aggressive Regierung in Moskau gibt es keine, Nordstream 2 werde nicht beendet und das alles wird mit der deutschen Geschichte begründet, die immer dann herhalten muss, wenn man sich einmal mehr aus allem heraushalten will.

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Erinnerung an 1821

Zweihundert Jahre ist es nun her, dass die Griechen sich gegen die osmanische Kolonialmacht erhoben, wobei „Kolonialmacht“ ein Wort ist, das im Zusammenhang mit dem Osmanischen Reich, in älteren Texten: „die Türken“, kaum gebräuchlich ist. Die Begriffe Kolonialismus und Imperialismus haben sich mittlerweile auf die politischen Expansionsbestrebungen Europas im Rest der Welt verengt, wobei der Begriff „Europa“ keine Verengung, sondern eine Erweiterung darstellt: Die Schweizer, Litauen oder Griechenland sind Teil Europas, haben aber keine Kolonialgeschichte, zumindest nicht in der Neuzeit, sieht man einmal vom kurzfristigen, weil gescheiterten Versuch der griechischen Nationalbewegung ab, ganz Kleinasien unter ihre Kontrolle zu bekommen.

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Hisbollah und die Umkehrung der Fakten

Stellen Sie sich vor, eine Gruppe von Neonazis in Deutschland würde von einer ausländischen Macht mit einer stetigen und umfangreichen Waffenlieferung bedacht, infolgedessen sie zu einem so gewaltigen Machtfaktor würden, dass der Staat damit überfordert wäre, ihre Strukturen zu zerschlagen. Stattdessen bliebe dem deutschen Staat nichts übrig, als sich mit den Neonazis zu arrangieren und es zu tolerieren, wenn diese im Land Strassensperren errichten und Menschen nach Belieben festnehmen.

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Brexit-Häme

Geht Grossbritannien bald unter? Geht es nach deutschen Medien, versinkt das Land im Ozean der Eitelkeit. Selbstüberschätzung, populistische Politiker und Fremdenfeindlichkeit haben Grossbritannien an den Rand des Abgrunds geführt. Mag sein, dass es so kommt.

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Das jüdisch-christliche Abendland ist keine Fiktion, aber …

Das jüdisch-christliche Abendland ist ein Topos, zu dem Rechtskonservative gerne Zuflucht nehmen, wenn es darum geht, dem Islam seine Zugehörigkeit zu Europa abzusprechen, was dann aus dem linken Teil des politischen Spektrums gerne mit dem Argument gekontert wird, dass das christlich-jüdische Abendland erstens eine Fiktion und zweitens eine Frechheit sei, wo doch der christliche Teil des Abendlands eine lange Geschichte der Verfolgung am jüdischen Teil vorzuweisen habe. Meist sind dann auch noch aus der politischen Mitte heraus Wortmeldungen zu vernehmen, wonach das Abendland nicht nur Christentum und Judentum, sondern ebenso sehr dem Islam seine Existenz verdanke.

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Eine schaurige Debatte

Wie absurd öffentlich Debatten zuweilen verlaufen können, zeigt sich dieser Tage am Beispiel des Wochenblatts “Die Zeit”. Dort hatte man die aktuelle Migrationskrise aufgreifen wollen und zwei Redakteure ein Pro & Contra zum Thema private Seenotrettung schreiben lassen und unter der Überschrift “Oder soll man es lassen?” gross ins Blatt gehoben.

Der Contra-Teil fiel der “Zeit”-Redakteurin Mariam Lau zu, die unter der Überschrift “Retter vergrößern das Problem” argumentierte, dass die private Seenotretter sich – gewollt oder ungewollt – zu Komplizen der Schlepper machen. The way to hell is paved with good intentions – aber erkläre einer das mal einem Idealisten.

Sofort meldeten sich Leute zu Wort, deren Mangel an Textverständnis durch ein gerüttelt Mass an Empörung kompensiert wird. Ein Journalist der “Krautreporter” warf seiner Kollegin allen Ernstes Zynismus vor, obgleich Lau die Seenotrettung als solche gar nicht infrage gestellt, sondern nur die Rolle der NGOs kritisiert hatte. Vergebens.

Es kam, wie es kommen musste. Die “Zeit” ruderte zurück und erklärte in Gestalt ihres stellvertretenden Chefredakteurs Bernd Ulrich, man sei ehrlich enttäuscht über die eigene Formulierung der Überschrift, und stellte allen Ernstes die Legitimation für ein Pro-und-Contra privater Notrettung infrage. Damit wurde quasi eine Selbstzensur für die künftige Debatte im eigenen Blatt verkündet.

Wer sich selbst ein Denkverbot nur für eine möglicherweise missverständliche Überschrift auferlegt, dem ist nicht mehr zu helfen. Jeder, der mehr als nur die Überschrift las, konnte wissen, dass Mariam Lau nie dafür plädiert hat, Menschen ertrinken zu lassen, sondern nur die faktische Kumpanei privater Seenotretter angeprangerte. Der Versuch, Sachlichkeit in die Debatte zu bringen, musste scheitern.

Es wurde immer bizarrer. Der Grünen-Politiker Özcan Mutlu befand sogar, dass der WM-Sieg Frankreichs ein Beweis für die Stärke von Einwanderungsgesellschaften sei, obwohl mit Kroatien doch immerhin ein Land Vizeweltmeister geworden ist, das keine Einwanderung kennt und augenscheinlich keine Fussballer mit Migrationshintergrund in seiner Nationalmannschaft hat.

Zwar bekam Lau Schützenhilfe u.a. von der FAZ, in der Rainer Hank darauf hinwies, dass die Kritik an den NGOs gerechtfertigt sei und es nicht darum gehe, Migration zu verhindern, sondern darum, die Kontrolle zurückzuerhalten, aber linke Idealisten scheinen um jeden Preis eine ungesteuerte Migration über das Asylrecht zu wollen.

Auch der sachliche Hinweis von Thomas Schmid von der “Welt”, dass möglicherweise “vielen” der Ankommenden “der Comment ihrer neuen Gesellschaft fremd oder gleichgültig oder gar verachtenswert” sein könnte, rief Empörung hervor – diesmal aus den Reihen des FAZ-Feuilletons. Hier war es Patrick Bahners, der darin die “böse, durch nichts belegte Prämisse der Migrationsdebatte” ausmachen sollte.

Dabei ist Schmids Behauptung alles andere als eine steile These. “Viele” heisst nicht unbedingt die Mehrheit, es können auch zehn oder zwanzig oder dreissig Prozent der Migranten sein. Immerhin wissen wir aus der Migrationsforschung, dass “viele” mit dieser Gesellschaft hadern: “Nur eine Minderheit der deutschen Muslime hat fundamentalistische Einstellungen, aber es ist eine grosse Minderheit,‟ fasst der Ruud Koopmans vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) die Situation zusammen. Ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht ist, mag jeder für sich entscheiden.

Lassen wir einmal die Frage weg, wieviele Einwanderer unsere Gesellschaftsordnung gleichgültig oder feindselig gegenüberstehen, so ist es doch nicht weit hergeholt zu vermuten, dass sie nicht wenigen von ihnen fremd ist, kommen sie doch aus Ländern, die weder als demokratisch noch als besonders liberal verschrien sind. Aber nein. Linke Idealisten wollen noch nicht einmal das diskutieren.

Jakob Augstein, Kolumnist des “Spiegel”, verstieg sich zu der Behauptung, dass die “Zeit”, “den Gedanken frei[gibt]”, “dass es Umstände geben kann, unter denen Lebensrettung nicht mehr ‘legitim’ ist.” Das ist nicht nur völliger Unsinn, sondern geht auch sonst an der Sache vorbei. Augstein nämlich leitet die Pflicht zur Seenotrettung durch die Europäer daraus ab, dass das Mittelmeer den Europäern gehört. So habt ihr es wohl vernommen, liebe Tunesier, Marokkaner, Algerier und Libyer, dass das Mittelmeer unser Meer ist! Gut für euch: Ihr braucht keine Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung ist unsere Sache.

Das internationale Recht sieht im Falle einer Seenotrettung (search-and-rescue operations) vor, dass der Staat, in dessen Zuständigkeitsbereich (search-and-rescue region) eine Seenotrettung stattfindet, auch die Hauptverantwortung für die weitere Unterbringung von Schiffbrüchigen tragen soll. Das jedenfalls ist die Position der UNHCR. Hier wären bei Schiffbrüchigen vor der nordafrikanischen Küste also vor allem die maghrebinischen Länder gefragt.

Die überfüllten Schlauchboote der Schlepper schaffen es nämlich meist nur wenige Meilen auf dem Wasser. Malta aber liegt etwa 350 km von der libyschen und etwas mehr als 300 km von der tunesischen Küste entfernt, der kürzeste Weg von Tunesien nach Sizilien beträgt noch immer etwa 150 km, ebenso viel nach Lampedusa.

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Dabei ist Mariam Laus Position keineswegs plausibel. Die Gegenposition, das Pro, verfasst von Caterina Lobenstein, argumentiert viel überzeugender, dass die private Seenotrettung keineswegs einen Sogeffekt hat und eher einen geringen Einfluss auf die Entscheidung von Menschen hat, gen Europa aufzubrechen. Das lässt sich empirisch nachweisen, wie man auf den Tag genau schon ein Jahr zuvor im selben Blatt viel ausführlicher nachlesen konnte. So haben sich die Schleuser zwar die Tatsache zunutze gemacht, dass private Seenotretter unterwegs sind, und darauf reagiert, indem sie an der Ausrüstung sparten.

Eine Studie der Universität Oxford hat jedoch gezeigt, dass zumindest von den privaten Seenotrettern die Erzeugung eines Sogeffekts praktisch nicht festzustellen ist. Der einzige Effekt, den private Seenotrettung im Mittelmeer hat, sind weniger Tote. Damit bricht die Argumentation von Mariam Lau zusammen, die mit ihrer Behauptung, private Seenotretter betrieben das Geschäft der Schleuser, zwar nicht unrecht hat, aber den Beleg schuldig bleibt, dass ohne erstere das Geschäft letzterer zusammenbrechen würde.

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Linke Idealisten wie Augstein argumentieren jedoch nicht mit Empirie, sondern empören sich nur. Das Schleuserunwesen, das Menschen aus armen Ländern durch falsche Versprechungen dazu verführt, die Existenz in ihrem Heimatland aufzugeben, bereitet ihnen augenscheinlich keine Sorgen. Dabei müsste, wer die Migrationsursachen bekämpfen möchte, sich besser für ein Einwanderungsrecht stark machen, damit das Asylrecht denen vorbehalten bleibt, die politisch verfolgt werden.

Dann würden Einwanderungswillige nach dem Bedarf der Wirtschaft die Möglichkeit erhalten, sich dauerhaft in Deutschland niederzulassen, ohne dass das Recht auf Asyl für politisch Verfolgte angetastet würde. Wir dürfen vermuten, dass linke Idealisten dies deshalb nicht wollen, weil eine gesteuerte Einwanderung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten genau das ist, was man in entsprechenden Kreisen als “Neoliberalismus” verschmäht.

Die Verächter des “Neoliberalismus” (deshalb in Anführungszeichen, weil der Begriff fast immer völlig unreflektiert verwendet wird) bedenken freilich nicht, dass es nicht nur in unserem Sinne ist, wirtschaftliche Kriterien anzuwenden, sondern auch im Sinne der Einwanderer selbst, damit ihr existentieller Neustart in Deutschland nach Möglichkeit nicht von der Ungewissheit darüber getrübt wird, wie der eigene Unterhalt bestritten werden kann.

Es ist eine schaurige Debatte. Wo sie mit simpler Empirie viel überzeugender hätten argumentieren können, beschwören linke Idealisten unentwegt “Empathie” und “Menschenrechte”. Freilich kommen ihnen diese Begriffe vornehmlich dann in den Sinn, wenn es darum geht, den Westen vorzuführen.


Nachtrag 15.12.2018

In der NZZ schreibt Lucien Scherrer u.a. in Bezug auf die Reaktionen auf den Artikel von Mariam Lau: “Was früher Mainstream war, gilt heute oft als rechtsextrem, nie da gewesen oder überhaupt unsäglich.”

Nachtrag 09.02.2019

In der “Welt” zeigt sich Sebastian Gubernator zwischen Argumenten für und gegen die private Seenotrettung hin- und hergerissen, ist sich nach einer Begegnung mit einem privaten Seenotretter aber sicher: “Was Porro im Mittelmeer gemacht hat, kann nicht falsch gewesen sein.”

Nachtrag 1. Juni 2019

Wie sehr der Rechtspopulismus in Italien die Stimmung gegen Migranten aufgeheizt hat, hat Dominik Straub für den “Tagesspiegel” aufgezeichnet: “Das einst gastfreundliche, offene und tolerante Belpaese, das noch vor wenigen Jahren stolz war auf seine eigene Seenotrettungsmission ‘Mare Nostrum’, ist aggressiv und intolerant geworden.”

Nachtrag 29. Juni 2019

Zum aktuellen Fall der Sea Watch 3, die vor der italienischen Küste aufgebracht wurde, und ihre Kapitänin Carola Rackete, der Haft und Geldstrafe drohen, schreibt die “Süddeutsche”: “In Libyen herrscht Krieg. In den libyschen Auffanglagern werden Migranten gefoltert und missbraucht. (…) Deshalb steuerte Rackete die Insel Lampedusa an, den nächstgelegenen sicheren Hafen. So steht es im Seerecht, das Wohl der Menschen geht vor. (…) Die Kapitänin braucht also keinen Heldenstatus, sondern nur einen schnellen Freispruch.”

Nachtrag 30. Juni 2019

Jasper von Altenbockum schreibt in der FAZ zum selben Thema: “Die Kapitänin der ‘Sea Watch3’ mag jetzt auf übertriebene Weise zur Märtyrerin stilisiert werden; ihr Anliegen, die Verteidigung der Menschenrechte, lässt sich aber nicht dadurch beiseite wischen, dass die Bekämpfung von Schleppern oder die Abschottung Italiens höher zu bewerten wäre.”

Warum hat die Sea Watch 3 nicht die in Seenot Geratenen nach Tunesien gebracht, das von Libyen aus näher als das italienische Lampedusa liegt? Antwort gibt Martin Klingst in der “Zeit”: Da Libyen weder imstande war, mit eigenen Booten zu retten, noch, fremde Schiffe für den Rettungseinsatz zu koordinieren, “hätten eigentlich die unmittelbar benachbarten Staaten einspringen müssen, also Tunesien im Westen und Malta im Norden. Tunesien jedoch wollte nicht aushelfen und der winzige Inselstaat Malta fühlte sich völlig überfordert. Deshalb war Italien an der Reihe.”

Nachtrag 2. Juli 2019

Endlich einmal jemand, der das ganze Bild sieht! Der Soziologe Gerald Knaus sagt im Interview mit der “taz”: “Es gibt zwei Imperative. Der eine ist der der Seenotrettung (…). Das ist grundlegend für unsere Zivilisation, es gilt sogar in Kriegszeiten. Der zweite Imperativ ist es, irreguläre und lebensgefährliche Migration zu reduzieren. (…) Hier muss kluge Politik ansetzen, damit das unvermeidliche Retten keinen tödlichen Sogeffekt erzeugt.” Bravo!

Nachtrag 3. Juli 2019

Im Interview mit der “Welt” macht Gerald Knaus noch einmal deutlich, dass die Sea Watch 3 auf keinen Fall Tunesien oder Marokko hätte anlaufen können, dass dies aber nicht so bleiben müsse. Vielmehr solle die EU, ähnlich wie sie es mit der Ukraine getan hat, den beiden Ländern Angebote machen: “Werdet sichere Drittländer, baut funktionierende Asylsysteme auf, kooperiert bei der Rücknahme, dafür bietet die EU eine wirklich strategische Partnerschaft und visafreies Reisen.” Zugleich fordert Knaus, wie schon im “taz”-Interview (s.o.), eine verbesserte Abschiebepraxis: “Ein solches Paket und eine glaubwürdige Politik, ab einem Stichtag schnell abschieben zu können, würde irreguläre Migration reduzieren und Leben retten.”

Nachtrag 23. September 2019

Eine deutsch-jüdische Organisation namens Central Welfare Board holt mit israelischer Hilfe Flüchtlinge aus dem Mittelmeer, wie die “Times of Israel” berichtet. Der Vorsitzende des Central Welfare Board, Aaron Schuster, weiss um die Problematik, dass viele Flüchtlinge aus Kulturen stammen, in denen Antisemitismus weit weniger tabu ist als hierzulande, doch “what is very important for us is that the fear of anti-Semitism does not justify being a bystander to a humanitarian crisis.”

Nachtrag 1. März 2020

Der Deutschlandkorrespondent der NZZ urteilt über die Debattenkultur in Deutschland, wenn es um die Flüchtlingskrise geht: “In der Schweiz wurde über alle Aspekte der Flüchtlingskrise anders und freier geschrieben. Bei vielen deutschen Journalisten befiel mich das Gefühl, dass sie versuchten, den Kurs der Regierung abzustützen: nur nicht die Willkommenskultur gefährden.”

Nachtrag 16. März 2020

Die Münsteraner Juristin Nora Markard berichtet aus ihrer Forschung über die Seenotrettung in der EU: “Wir haben in diesem Kontext untersucht, ob es rechtmäßig ist, aus Seenot gerettete Personen in den nordafrikanischen Staaten auszuschiffen. Unser Ergebnis: in Libyen auf keinen Fall – in Algerien, Marokko, Tunesien und Ägypten kommt es drauf an.” Letztere können für manche Personengruppen als sicher gelten, für andere nicht, allerdings ist “eine Einzelfallprüfung auf See […] kaum möglich […]. Daher kommen wir zum Ergebnis, dass auch in diesen Ländern von einer Ausschiffung abgesehen werden muss.”

Nachtrag 29. März 2023

Ein Bericht auf Spektrum.de enthüllt eines der Probleme der Seenotrettung, nämlich die libysche Küstenwache: “Hilfsorganisationen sprechen bewusst nur von der »so genannten« libyschen Küstenwache, da es sich dabei nicht um eine seriöse Behörde handelt. Die libyschen Milizen (…) halten Flüchtende schon an der Küste auf oder fangen sie auf hoher See ab, selbst in internationalen Gewässern. Teils mit Waffengewalt zwingen sie die Fliehenden an Bord ihrer Schiffe und bringen sie zurück nach Libyen. Solche »Pullbacks« sind illegal.

Nach der Wahl: Wie geht es weiter in der Flüchtlingsfrage?

Dass ich nicht in einem ethnisch homogenen Land leben möchte und mir Deutschland, meine Heimat, nur als weltoffenes Land vorstellen kann, ist eine Haltung, die ich mit ziemlich vielen Landsleuten teilen dürfte und ich möchte sogar behaupten, mit den meisten.

Überfremdungsängste habe ich keine. Oft genug war ich auf Feiern oder Veranstaltungen, auf denen ich der einzige Nicht-Grieche, Nicht-Afrikaner, Nicht-Muslim oder Nicht-Iraner war. Ein Flüchtlingsheim in meiner Strasse würde mich ebensowenig stören wie Zuwanderer als Nachbarn.

Dieses Bekenntnis schliesst jedoch nicht ein, die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel gutzuheissen. Es gibt eine Kritik an Merkels Politik, die nicht von Rassismus oder Nationalismus gespeist ist, sondern von Fakten, die aber von weiten Teilen der Politik wie auch der Publizistik nur zögerlich thematisiert werden.

Mittlerweile ist eine solche Kritik zu einem Markenzeichen der Rechtspopulisten geworden – und jeder, der sie artikuliert, bringt sich in den Verdacht, mit diesen zu sympathisieren. Doch selbst wenn man die Grenzöffnung durch Angela Merkel im Herbst 2015 gutheisst, so bleibt festzuhalten, dass die Zuwanderer weitgehend unkontrolliert ins Land gelassen wurden und die Grenze über Monate offen blieb.

Zu dieser Politik beitragen haben dürften linke Fake News: Dass da lauter hochqualifizierte Leute kommen und IS-Terroristen schon nicht unter den Zuwanderer sein würden, weil es für den IS leichter sei, hier lebende Sympathisanten der Terrorgruppe für Anschläge anzuwerben. Alles falsch, alles frei erfunden. Aber wer sind eigentlich die Menschen, die da zu uns kommen?

*

Ungefähr vor anderthalb Jahren berichtete mir ein Freund aus Beirut, dass er schon seit einiger Zeit keine Schuhputzer mehr in der Stadt sehe und er konnte sich die Gründe dafür nicht erklären, hatte es in Beirut doch immer Schuhputzer gegeben. Als er eine Pizzeria für einen kleinen Imbiss aufsuchte, entschuldigte sich der Inhaber für die Wartezeit, da er jetzt alles alleine machen müsse, seitdem seine Gehilfen sich auf und davon gemacht haben.

Ja, ganz genau: Die Pizzabäcker und die Schuhputzer sind nach Europa gegangen, was ich kaum glauben konnte, als ich davon hörte, denn die Libanesen haben doch keine Chance, hierzulande als Kriegsflüchtlinge anerkannt zu werden. Erst durch einen Bericht in der Frankfurter Rundschau, gewiss kein AfD-nahes Blatt, erfuhr ich, dass die deutschen Behörden angewiesen sind, Flüchtlinge entsprechend der eigenen Herkunftsangaben zu behandeln: Wer zu Protokoll gibt, er sei aus Syrien, der gilt als Syrer.

Da der libanesische Dialekt praktisch mit dem syrischen identisch ist, wird diese Behauptung von Behördenseite zunächst auch nicht angezweifelt.
Die Frage ist nun: Was machen Schuhputzer und Pizzabäcker in Deutschland? Nicht, dass wir diese Leute nicht ernähren könnten, aber Kriegsflüchtlinge sind sie nicht, Beirut ist kein Kriegsgebiet und auch nicht von Dürre oder Unwetter betroffen. Doch werden diese Leute auf dem deutschen Arbeitsmarkt kaum Fuss fassen können.

Sicher, Schuhputzer und Pizzabäcker sind ziemlich miese Jobs, sodass es verständlich ist, wenn Menschen in der Ferne ihr Glück suchen. Doch einmal hier angekommen, stellen sie fest, dass sie hier noch weniger als einen miesen Job bekommen, denn zum einen können sie kein Deutsch, zum anderen werden hierzulande weder Schuhputzer noch Pizzabäcker gebraucht.

Stattdessen werden sie von den deutschen Behörden verwaltet, kommen in eine Sammelunterkunft und erhalten an Zuwendungen gerade soviel, dass es zum Leben reicht. Zurück aber können sie nicht, haben sie ihr Hab und Gut doch zu Geld gemacht, um den Schleuser zu bezahlen. Niemand, wirklich niemand kann mit dieser Situation glücklich sein, weder die Deutschen noch die Zuwanderer, aber in der Filterblase vieler linker Politiker und Journalisten wird dies komplett ausgeblendet.

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Vor ziemlich genau einem Jahr, im September 2016, war ich mit einer amerikanischen Reisegruppe im Bundestag. Die Gruppe unter der Führung eines amerikanischen Nahostexperten war in drei Ländern in einer „fact finding mission‟ zum Thema Islam in Europa unterwegs. Am letzten Tag des Aufenthalts in Berlin hatten wir einen Termin mit einem hochrangigen Grünen, der einen kurzen Vortrag über die Flüchtlingsproblematik hielt.

Nun gut, die Grünen unterstützen die Regierung Merkel in Sachen Grenzöffnung. Dennoch hätte man erwartet, dass hier Kritik an der Art und Weise geübt würde, wie die Regierung die Aufnahme der Flüchtlinge managt – doch Fehlanzeige. Der Grünen-Politiker redete die ganze Zeit so, als wäre er der Pressesprecher der Bundeskanzlerin. Alles kein Problem, für alles finden „wir‟ eine Lösung, so der Tenor.

Auf meinen Einwand, dass man doch unabhängig davon, wie man zur Politik der Kanzlerin steht, sich eingestehen müsse, dass vieles falsch läuft, setzte der Grüne eine gereizte Miene auf und wehrte jede Kritik an der Regierung ab. In diesem Augenblick zeigte sich überdeutlich, dass es zumindest in dieser Angelegenheit keine Opposition im Bundestag gibt.

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Eine Dolmetscherin für Persisch, die für Zuwanderer aus dem Iran dolmetscht – dabei handelt es sich überwiegend um Afghanen, die als Gastarbeiter dort meist auf dem Bau gearbeitet haben – berichtet, wie sie es eines Tages mit einem jungen Mann zu tun hatte, der von den deutschen Behörden verlangte, ihm Schuhe zu kaufen – nicht irgendwelche, sondern teure Markenschuhe für zweihundert Euro. Dass er mit seinem Taschengeld haushalten muss, mochte der junge Mann nicht einsehen: Sein Geld hatte er schon aufgebraucht, um sich ein neues Smartphone zu kaufen.

Besagte Dolmetscherin weiss fast jede Woche von solchen und ähnlichen Fällen zu berichten. Dazu gehört, dass sich viele Flüchtlinge als minderjährig ausgeben, aber keine Papiere haben, die ihr Geburtsjahr bestätigen. In solchen Fällen sind die Behörden gezwungen, allein aufgrund seiner Aussage den Zuwanderer in eine Unterkunft für Minderjährige zu überstellen, wo die Versorgung im allgemeinen besser ist.

Diese Regelung ist grundsätzlich sinnvoll, weil pragmatisch, aber sie wird ad absurdum geführt, wenn der Zugewanderte ganz offensichtlich viel älter ist und er einen schon leicht angegrauten Vollbart trägt. Unwahrscheinlich, dass wir es hier mit einen Sechzehnjährigen zu tun haben, aber die Vorschriften besagen, dass die Auskunft des Betreffenden darüber entscheidet, ob dieser in eine Unterkunft für Erwachsene oder für Minderjährige kommt.

So mischen sich unter die echten Flüchtlinge auch Zuwanderer, die einfach auf ein besseres Leben aus sind. Das ist menschlich verständlich, aber was wird aus diesen Menschen in Deutschland? „Fluchtursachen bekämpfen‟, fordern Politiker aller Parteien. Aber die Fluchtursachen dürften in vielen, wenn nicht gar in den meisten Fällen falsche Vorstellungen von dem sein, was die Menschen hier in Deutschland erwartet.

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Was die derzeitige Zuwanderung angeht, so gibt es hier keine einfachen Lösungen, die praktikabel sind und zugleich der Humanität verpflichtet. Aber ich frage mich, ob all die Befürworter weiterer Massenzuwanderung gleich welchen Herkunftslandes wirklich an den Menschen interessiert sind, die da von ausserhalb Europas zu und kommen, oder ob es ihnen nicht vielmehr darum geht, wie bei der Befreiung des Irak von der Herrschaft Saddam Husseins, einen Vorwand zu finden, den Westen anzuprangern.

Die Leute in meinem Umfeld, die sich für Flüchtlinge engagieren oder auf sonst eine Weise sozial aktiv sind, haben politisch meist eine eher konservative Einstellung und stehen häufig der Kirche nahe. Die Linken sitzen hinter ihren iMacs und schreiben Texte gegen den Rassismus der Gesellschaft.


Nachtrag 23.10.2017

Zur Fluchtursache namens “falsche Vorstellungen vom Leben in Deutschland”: Die “Welt” berichtet, dass die Bundesregierung endlich etwas gegen die falschen Versprechungen der Schleuser – etwa, dass jeder ein Haus geschenkt bekommt – tun will. Dafür wurde eigens die Seite rumoursaboutgermany.info eingerichtet. Es wurde auch Zeit!

Nachtrag 18.11.2017

Manchmal steht selbst in der taz, einem linken Hassblatt, etwas gescheites und so kritisiert ein Kommentar auf treffliche Weise die verlogene Moral derer, die die deutsche Flüchtlingspolitik für human halten: Die 2015 Aufgenommenen mussten gar nicht mehr gerettet werden; die, die aktuell gerettet werden müssten, werden im Stich gelassen.

Nachtrag 30.12.2017

“Unwahrscheinlich, dass wir es hier mit einen Sechzehnjährigen zu tun haben, aber die Vorschriften besagen, dass die Auskunft des Betreffenden darüber entscheidet, ob dieser in eine Unterkunft für Erwachsene oder für Minderjährige kommt” schrieb ich oben. Mit dem Ereignis von Kandel, als ein Zuwanderer von angeblich fünfzehn Jahren ein junges Mädchen tötete, hat sich gezeigt, wohin diese Regelung führen kann. Freilich, wer es wissen wollte, hätte längst wissen können, dass Handlungsbedarf besteht.

Nachtrag 02.04.2019

Passend zu meinem Schlusssatz “Die Linken sitzen hinter ihren iMacs und schreiben Texte gegen den Rassismus der Gesellschaft” erscheint eine Reportage in der FAZ über eine christliche Asylantin aus Gaza, die in Deutschland denselben Sozialstrukturen und Einstellungen der Community begegnet, vor denen sie geflohen ist, und die feststellen musste, dass sie von der deutschen Gesellschaft keine Hilfe zu erwarten hat: “In Rage bringe sie die Eitelkeit eines Milieus, dass sich Vielfalt auf die Fahnen schreibt, sich für die reale Lage der Flüchtlinge aber nicht interessiert (…).”

Ein Europa der flexiblen Geometrie

Die EU befindet sich in einer fundamentalen Krise: So haben laut dem Ökonomen Hans-Werner Sinn einzelne Mitgliedstaaten ihr Staatsdefizit in Prozent des BIP seit 1996 insgesamt 165 Mal überschritten, wobei in 112 Fällen die EU-Kommission eine Strafe hätte verhängen müssen. Diskutiert wird aber vor allem über die Schicksale einzelner Mitgliedsländer, seien es Grossbritannien, Griechenland oder Italien.

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