Nahostexperten am Limit (1)

Unter den hiesigen Nahostexperten, gerade wenn sie mit einem Hochschulabschluss geadelt sind, gibt es offenbar nur zwei Überzeugungen: Dass Israel und die Hamas gleichermassen am aktuellen Krieg die Schuld tragen, wobei Israel dann doch ein wenig mehr Schuld hat – oder dass Israel gleich als Hauptursache des ganzen sogenannten Nahostkonflikts zu gelten hat.

Das zeigt sich dieser Tage besonders eindrücklich auf Qantara.de, einer aus öffentlichen Geldern geförderten Plattform, die sich als Dialogportal versteht. Dort präsentiert eine Kristin Helberg „sieben unbequeme Erkenntnisse„, die doch nur sieben bequeme Mythen sind. Immerhin verfügt die Autorin über erstaunliches Wissen und hat offenbar die gesamte interne Kommunikation von Hamas und Hisbollah abgehört, weiss sie doch, dass „nicht jede abgefeuerte Rakete, nicht jeder Drohnenangriff“ mit der Führung in Teheran abgesprochen sei.

Aber das ist nur ein Nebenschauplatz. Entscheidend ist , wie gut Hamas und Hisbollah bei ihr wegkommen. Keine der Terrororganisationen wolle einen grossen Krieg, beruhigt uns die Autorin, und wenn es doch einmal einen kleinen Krieg gibt, dann handelt es sich um einen Brandherd, der ausser Kontrolle geraten ist. So wie die 1.200 am 7. Oktober letzten Jahres von der Hamas vergewaltigten, entführten, verstümmelten und verbrannten Opfer eines seit Israels Unabhängigkeit beispiellosen Angriffs.

Unsere Qantara-Autorin findet das schrecklich, doch gibt sie Entwarnung, insofern als sie die Menschen im Nahen Osten davon freisprechen kann, solche Taten gutzuheissen. Dass auf arabischen und europäischen Strassen nach dem Massaker Süssigkeiten verteilt wurden, scheint ihr ebenso entgangen zu sein wie die Tatsache, dass es in muslimischen Ländern Mainstream ist, Israel zu dämonisieren und dem Land das Existenzrecht abzusprechen . Statdessen glaubt sie, dass die Hamas nur deswegen so populär ist, weil sie auf das Leid des palästinensischen Volkes aufmerksam gemacht habe.

Parolen aus den Neunzigern

Mit solchen Parolen fluten Propagandasender wie Aljazeera Tag und Nacht ihr Publikum und man ahnt, dass unsere Qantara-Autorin eine willige Konsumentin dieser als Journalismus getarnten Hetze sein könnte. Die Palästinenser haben eine eigene Flüchtlingsorganisation under dem Dach der UN und stehen Tag und Nacht im Brennpunkt internationaler Aufmerksamkeit. Bis vor dem Krieg ging es ihnen auch deutlich besser als sehr vielen Menschen in arabischen Ländern. Dort herrscht abseits der Touristenpfade eine zum Teil schockierende Armut, selbst in grossen Städten wie Kairo oder Damaskus, aber von all dem weiss unsere Autorin nichts.

Tatsächlich hat die Hamas das Leid der Palästinenser erst verursacht, indem sie gewaltige Finanzmittel für den Bau von Tunneln und Raketen verwendet hat, anstatt sie in die Infrastruktur des Gazastreifens zu stecken. Dass Waffengewalt kontraproduktiv ist, weiss zwar auch unsere Autorin. Aber sie meint nur die Waffengewalt, die von Israel oder den USA ausgeht, denn natürlich sind die israelische Regierung und ihre Verbündeten das Friedenshindernis, nicht Terrororganisationen, die sich die Auslöschung Israels auf die Fahnen geschrieben haben.

Wenig überraschend ist daher, dass die Qantara-Autorin auch die von dem Historiker Joseph Croitoru (dessen Name sie nicht erwähnt) in die Welt gesetzte haltlose Behauptung übernimmt, die Hamas habe sich seit 2017 gemässigt. Das hätte sie leicht anhand des Originaldokumentes als Absurdität entlarven können und es hätte ihr auch auffallen müssen, dass die Gräueltaten vom 7. Oktober nun gerade das Gegenteil beweisen, nämlich eine Freude am Abschlachten und Demütigen.

Stattdessen beruft sie sich auf eine von der Hamas formulierte Klarstellung, wonach man es eigentlich nur auf „israelische Militäreinrichtungen“ abgezielt habe, nicht auf Zivilisten. Unsere Qantara-Autorin nimmt das tatsächlich für bare Münze, weswegen ihr auch der Widerspruch nicht auffällt: Wäre es nur um Militäreinrichtungen gegangen, hätte die Hamas keine Geiseln genommen, denn Geiseln nimmt man nicht versehentlich oder im allgemeinen Durcheinander.

Unsere Qantara-Autorin will nun die Klarstellung der Hamas einerseits als Propaganda verstanden wissen, man möchte schliesslich nicht naiv erscheinen, will aber andererseits die Kurve zu einer Zweistaatenlösung kriegen, die sie gegen Israel durchsetzen möchte. Dass weder Hamas noch Hisbollah noch eine der anderen miltianten islamistischen Gruppen in der Region für eine Zweistaatenlösung zu haben sind, kommt ihr gar nicht erst in den Sinn.

Überhaupt, eine Zweistaatenlösung mochte in den Neunzigern als taugliches Mittel zur dauerhaften Koexistenz zwischen Israelis und Arabern erscheinen, doch seitdem Israel sich aus dem Libanon und dem Gazastreifen zurückgezogen hat, kann es das nicht mehr sein. Jeder Rückzug Israels hat nicht das Tor zum Frieden geöffnet, sondern nur die radikalen Kräfte in der Region zur Aufrüstung ermutigt. Israel hat hier nichts zu gewinnen, die Preisgabe von Territorium hat keine Friedensdividende erbracht.

Dass die Hisbollah im Libanon und die Hamas im Gazastreifen so mächtig werden konnten, hat zudem mit der Schwäche der arabischen Staaten zu tun. Anders als ihr autoritäter Charakter vermuten lässt, sind sie morsch und brüchig. Eine Organisation wie die Hisbollah ist daher mehr als nur eine Miliz, sondern bildet einen Staat im Staate Libanon, dessen Souveränität sie unterminiert. Dasselbe gilt für die Hamas, die, wie dokumentiert ist, über zwanzig Schmuggeltunnel gen Sinai gegraben und unterhalten hat, ohne dass der ägyptische Staat den Tunnelbau unterbunden hätte.

Ein langer Weg zum Frieden

Als Teil der Muslimbruderschaft ist die Hamas ein Produkt ägyptischer Radikalisierung und im Land gut vernetzt. Dass der ägyptische Staat den Tunnelbau, aus welchen Gründen auch immer, nicht verhindert hat, zeigt seine Brüchigkeit und fehlende Handlungsmacht. Ein palästinensischer Staat wäre mit grösster Wahrscheinlichkeit ebenso schwach, sich gegen radikale Kräfte im Inneren zur Wehr zu setzen und damit alles andere als ein Garant für friedliche Koexistenz. Schon die Palästinensische Autonomiebehörde als Proto-Staat zeigt alle Schwachpunkte anderer Staaten in der Region.

Seit dem Jahr 2000, als Ministerpäsident Barak die israelischen Truppen in einer einzigen Nacht aus dem Südlibanon abgezogen hat, ist eine Menge Wasser den Litani hinabgeflossen. Doch muss unsere Qantara-Autorin seither unter einem Stein gelebt haben, denn anders lassen sich ihre aus der Zeit gefallenen „Erkenntnisse“ kaum erklären. Um den Nahostkonflikt zu lösen, also den Kampf gegen Israel zu beenden, müsste zunächst einmal die Hetze arabischer und türkischer Medien von Aljazeera bis TRT Haber und Yeni Åžafak aufhören.

Anschliessend müssten die arabischen Nachbarstaaten ihre Souveränität zurückgewinnen und die Terrorgruppen im eigenen Land entmachten. Dazu müsste deren Hauptsponsor, das Teheraner Regime, gestürzt werden. Man sieht: Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Auch wenn Israel weder den Gazastreifen noch den Süden Libanons erneut auf längere Zeit zu besetzen gedenkt, weil die Besatzung in der Vergangenheit einen zu hohen Blutzoll gefordert hat, so wäre es für die Palästinenser und Südlibanesen sicherlich das geringere Übel, unter israelischer Herrschaft zu leben als unter der einer Terrororganisation.

Das freilich ist eine Erkenntnis, die nun wirklich für manchen unbequem sein mag.


Nachtrag 7. Juli 2024

Das Machtgefüge der Islamischen Republik Iran versteht Helberg auch nicht. Nach heftiger Kritik aus der iranischen Diaspora rudert sie jetzt zurück und behauptet, missverstanden worden zu sein.

Translate