Als Russland im August 2008 in Georgien einmarschierte, geschah das unter dem Etikett einer «peace enforcement operation». Ein ausgehandelter Waffenstillstand war von russischer Seite gebrochen worden, unterstรผtzt von sรผdossetischen Krรคften. Dem vorausgegangen war die Bombardierung der sรผdossetischen Stadt Tchinwali durch georgische Truppen, die der Europรคische Rat in einer Untersuchung als illegal bezeichnete.
Zwar entbehre die Behauptung der georgischen Seite, man habe einer massiven russischen Truppenbewegung und einem mรถglichen Einmarsch prรคemptiv begegnen mรผssen, jeglicher Grundlage, so der Untersuchungsbericht des Europรคischen Rates von 2009. Der Bericht kritisiert jedoch, dass die russische Antwort unverhรคltnismรคssig ausgefallen sei: «In a matter of a very few days, the pattern of legitimate and illegitimate military action had thus turned around between the two main actors Georgia and Russia.»
Bemerkenswert an dem Bericht ist, dass er die Geschichte vor dem georgischen Angriff auf Tchinwali prรคzise rekonstruiert: Demnach hatte Russland durch die bereitwillige Vergabe der Staatsangehรถrigkeit unter der sรผdossetischen Minderheit die Grundlage fรผr eine Abspaltung von Georgien geschaffen. Wie heute gegen die Ukraine, erhob Russland den Vorwurf, Georgien verรผbe einen «Genozid» an der ethnischen Minderheit der Sรผdosseten.

Der Bericht des Europรคischen Rates kommt hingegen zum Schluss, dass es dafรผr keine Anhaltspunkte gebe. Hingegen fand man Beweise fรผr eine systematische Plรผnderung und Zerstรถrung ethnisch georgischer Dรถrfer in Sรผdossetien. Die georgische Seite sprach damals immer wieder von einer «schleichenden russischen Annexion Abchasiens und Sรผdossetiens.» Moskau drohte dem Westen mehrfach, man werde Abchasien und Sรผdossetien anerkennen, sollten westliche Mรคchte das Kosovo anerkennen.
Russland hatte damals eigentlich die Rolle eines Vermittlers zwischen Georgien einerseits und den abtrรผnnigen Provinzen Abchasien und Sรผdossetien inne, verhielt sich aber wie eine Konfliktpartei. Man darf vermuten, dass die georgische Torheit, Tchinwali zu bombardieren, fรผr die russische Seite den willkommenen Vorwand bot, in Georgien einzumarschieren. Obwohl der Untersuchungsbericht der georgischen Seite die Schuld gibt an der Bombardierung, stellt er gleichwohl noch etwas anderes fest.
Jegliche Erklรคrung fรผr den Konflikt nรคmlich kรถnne nicht allein auf den Angriff auf Tchinwali fokussieren. Vielmehr, so der Bericht, mรผsse man auch jahrelange Provokationen berรผcksichtigen und in diesem Zusammenhang auch die Auswirkungen der Zwangspolitik und Diplomatie einer Grossmacht gegen einen kleinen Nachbarn, der durch schleichende Annexion dauerhaft erhebliche Teile seines Territoriums zu verlieren drohte. Soweit der Bericht.
Dann kam Wikileaks.
Die Enthรผllungsplattform Wikileaks verรถffentlichte ein Kabel des amerikanischen Botschafters in Georgien, John F. Tefft. Daraus geht hervor, dass nach einer internen Untersuchung die Fakten eher fรผr die georgische Darstellung sprechen, soll heissen: Der Krieg wurde nicht von Georgien begonnen. Diese Einschรคtzung, auch wenn sie von einer dritten Partei stammt, ist fraglos noch kein Beweis. Doch gibt es mindestens einen guten Grund, warum der Botschafter zu dieser Einschรคtzung kam.
Denn diejenigen georgischen Regierungsbeamten, die damals einen Krieg hรคtten befehligen kรถnnen, sollen Anfang August noch im Urlaub gewesen sein. Das verleiht der georgischen Darstellung Plausibilitรคt. Bis weitere Fakten auf den Tisch kommen, muss also die Frage, wer den Krieg begonnen hat, offen bleiben. Davon unberรผhrt bleibt die Feststellung, dass Russland zuvor Georgien zu destabilisieren versucht und spรคter militรคrisch zumindest รผberreagiert hat.
Diese Beobachtung fรผhrt uns zur Ukraine. Diese verbindet mit Georgien nicht nur die Tatsache, dass das russische Vorgehen offenbar nach demselben Muster ablรคuft, sondern ebenso eine Personalie. Denn der damalige georgische Prรคsident hiess Micheil Saakashwili, der heute in einem georgischen Gefรคngnis sitzt, zwischenzeitlich aber als ukrainischer Staatsbรผrger zum Gouverneur von Odessa avancierte.
Saakashwili, der als prowestlicher Reformer gilt und dessen Geschichte hoffentlich eines Tages verfilmt wird, dรผrfte einer der meistgehassten auslรคndischen Politiker im Kreml sein. In den vergangenen dreissig Jahren, also schon vor seiner Zeit beginnend, hat Georgien 39 Prozent seiner bilateralen Abkommen mit der Ukraine geschlossen. Beide Lรคnder sind stark nach Westen hin orientiert und haben sich von Russland abgewandt โ eine Provokation fรผr Moskau.
Kein Wunder, dass Mikhail Alexandrov, ein russischer Sicherheitsexperte, 2014 in einem Kommentar fรผr «Moskowski Komsomolez» einen Bogen von Georgien zur Ukraine spannte, die angebliche russische Schwรคche gegenรผber dem Donbass beklagte und es einen Fehler nannte, mit «Saakashwilis Regime» nicht Schluss gemacht zu haben. Jetzt fรผhle die Kiewer «Junta» sich stark und tanze Russland auf der Nase herum.
Den georgischen Job zu Ende bringen โ das ist es, was in der Ukraine geschieht.
Nachtrag 30. Mรคrz 2022
«Georgien und Moldau – Putins nรคchste Ziele?» fragt n-tv und zitiert die Osteuropa-Forscherin Sabine von Lรถwis: «Wladimir Putin hat sich seit dem sรผdossetisch-georgisch-russischen Krieg zunehmend radikalisiert und das mit der Krim-Annexion und der Unterstรผtzung der Separatisten im Osten der Ukraine noch verstรคrkt.«
Nachtrag 19. Juni 2022
Ein Beitrag auf n-tv listet all die Unannehmlichkeiten auf, mit denen es Georgien als Nachbar Russlands zu tun hat: Da werden willkรผrlich Grenzen von russischer Seite verschoben, Menschen mรผssen im Grenzgebiet mit Entfรผhrungen rechnen, und die besetzten Gebiete Acbhasien und Sรผdossetien werden immer mehr vom Rest Georgiens abgeschottet, sodass Georgier «zum Teil nicht mehr zu ihrem Arzt fahren, Friedhรถfe besuchen oder ihr Land bewirtschaften kรถnnen.» Daher sei auch die Solidaritรคt der Georgier mit der Ukraine gross, wenngleich die eigene Regierung einen Schmusekurs mit Russland fรคhrt, was insofern nicht verwundert, als auch die georgische Wirtschaft stark von Russland abhรคngig ist. Der Georgien-Kenner Mikheil Sarjveladze sagt, die von Russland besetzten Gebiete Abchasien und Sรผdossetien bedeuteten «zwar ein wirtschaftliches Verlustgeschรคft, aber Russland kann die Gebiete instrumentalisieren, um einen Konflikt zu provozieren.» โ Dieser traurige Zustand droht auch der Ukraine im Falle einer dauerhaften Besetzung von Teilen des Landes durch Russland.
