Wenn die staatsbürgerliche Gesinnung schwindet

Zivilgesellschaft bezeichnet die Gesamtheit der informellen Netzwerke, die sich öffentlich für Demokratie und Pluralismus engagieren. Nach ihr wird dieser Tage verstärkt gerufen, damit sie ein Bollwerk gegen die immer populärer werdende AfD und ihre rechtspopulistischen bis rechtsextremen Forderungen schafft und die offene Gesellschaft verteidigt. Aber was heisst das genau?

Graffiti Mural“ von Dave Meier/ CC0 1.0

Es gilt der Satz des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» Er ist die Antwort auf die Frage, wie ein politisches Gemeinwesen errichtet werden soll, wenn es darauf gründet, die Freiheit des einzelnen zu gewährleisten. Müsste ein solcher Staat nicht an den Einzelinteressen seiner Bevölkerung scheitern?

Böckenförde erörtert das Problem, wonach ein freiheitliches Gemeinwesen aufhört, ein solches zu sein, sobald seine Mitglieder dem Autoritarismus verfallen. Der Staat kann seinen Bürgern nicht die Freiheit verschreiben wie ein Arzt seinem Patienten die Medikamente. Die Bürger müssen ihre Freiheit bejahen und leben, aber dazu müssen sie sich mitunter organisieren, brauchen Plattformen und Ressourcen.

Von einer Grundüberzeugung und dem Engagement für diese abgesehen bedarf der freiheitliche säkulare Staat, von dem Böckenförde spricht, gar keiner wie auch immer ausgestalteten und von den Menschen verinnerlichten Weltanschauung, die es lebendig zu erhalten gilt. Es ist vor allem die Verständigung auf Regeln, nicht auf Tugend, die den freiheitlichen Staat konstituiert. Das historische Vorbild dafür sind die Vereinigten Staaten von Amerika.

Dabei hingen dessen Gründerväter nicht unbedingt einem optimistischen Menschenbild an. Aber gerade dieses eher skeptische Menschenbild hatte sie veranlasst, ein im Kern freiheitliches Gemeinwesen schaffen, auch wenn es noch kein Frauenwahlrecht gab und die Sklaverei erst fast einhundert Jahre abgeschafft wurde. Gleichwohl bleibt die Grundidee revolutionär: Indem sie ein Gemeinwesen auf Grundlage von Bindungen und Verträgen schufen, verwirklichten die Günderväter, wie Hannah Arendt zeigte, einen Traum der Aufklärung.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Regeln

Um hier einmal den bekannten Aufklärer Immanuel Kant zu bemühen: Kant hielt «selbst ein Volk von Teufeln» zur Staatserrichtung für fähig, sofern sie nur Verstand haben. Aus dem Kontext ergibt sich, dass Kant das Wort «Staatserrichtung» auf den Verfassungsstaat bezieht, der überhaupt erst das Regelwerk formuliert, das dem einzelnen erlaubt, seine Ziele auf eine Weise zu verfolgen, die der Gesellschaft nicht schadet, auch wenn sie im Einzelfalle mit den Interessen anderer kollidieren mögen.

Freilich darf die Menge derer, die dieses Regelwerk durch ein autoritäres Skript ersetzen wollen, eine kritische Masse nicht erreichen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat es wie folgt auf den Punkt gebracht:: „The spread of democracy depends on the legitimacy of the idea of democracy.“ Das ist im Grunde derselbe Gedanke wie der von Böckenförde, wobei hier deutlicher wird, dass das eine dem anderen vorausgeht.

Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass auch der amerikanische Way of Life, die Idee vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, nicht einfach als pseudo-religiöser Kult zu verstehen ist. Vielmehr ist er die Folge des Zutrauens in die Kraft von Bindungen und Verträgen, die geeignet sind, das Böse im Individuum zu zügeln. Das gilt auch und gerade für religiöse Extremismen, die, soweit sie im christlichen Gewande auftreten, weit eher ein amerikanisches Phänomen zu sein scheinen als ein europäisches.

Zwar mag der Politikwissenschaftler Mark Lilla recht haben, wenn er behauptet, dass das säkulare Europa religiöse Leidenschaften weniger zu mildern imstande ist als Amerika. Mit der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten freilich haben wir gesehen, wie selbst eine so gefestigte Demokratie wie die amerikanische ins Wanken geraten kann, wenn der mächtigste Mann im Staate sich wenig um Gesetze kümmert und Menschen und Institutionen einschüchtert, die sich ihm nicht beugen wollen.

Mit dem Aufstieg des Populisten Trump sind die checks and balances – ein Konzept, das auf den englischen Verfassungstheoretiker Blackstone im 18. Jahrhundert zurückgeht – erheblich geschwächt worden, womit sich das Land von einem Extrem ins andere bewegt. Bislang nämlich war eher ein Übermass an checks and balances das Problem, so der erwähnte Francis Fukuyama, wodurch das politische System Amerikas gelähmt wurde, Macht fehldelegiert und Institutionen kaum rechenschaftspflichtig waren.

Vom Populismus zum Autoritarismus

Wo aber der Respekt vor dem Rechtsstaat und damit die staatsbürgerliche Gesinnung schwindet, tritt der Populismus an deren Stelle und ersetzt der Geniekult das Vertrauen in die als korrupt empfundenen Institutionen. Hannah Arendt hielt es für ein «törichtes Vorurteil» zu glauben, die Nazidiktatur sei aus einer typisch deutschen Staatsvergötterung hervorgegangen. Es ist der Geniekult, der den Weg in den Autoritarismus freimacht, in welcher Spielart auch immer dieser daherkommen mag.

Aktuell erleben wir, wie Linke und Rechte sich gegenseitig in ihrer Rhetorik verstärken und die breite gesellschaftliche Mitte an den Rändern zerfasert. Politische Inhalte werden zunehmend zu Identitätsfragen, die sich um zwei Pole herum kristallisieren: Entweder man gehört in dieses oder in jenes Lager und wer von sich sagt, er mache sich mit keinem der beiden gemein, macht sich verdächtig, der Gegenseite anzugehören.

Die staatsbürgerliche Gesinnung wird dort geschwächt, wo der Wettbewerb um politische Gestaltung von einer Rhetorik der absoluten Opposition geprägt wird. Hier kommen nun wieder zivilgesellschaftliche Akteure ins Spiel, von denen manche staatliche gefördert werden. Wie problematisch solche Akteure sein können, zeigt das Beispiel des Blogs «Belltower News» zeigt, das eine zeitlang aus öffentlichen Geldern gefördert wurde.

Das Blog besticht denn auch durch gut recherchierte Artikel über die Umtriebe von Rechtsextremisten und Antisemiten in Deutschland, was auf jeden Fall Anerkennung verdient. Allerdings vermengt es die Analyse mit einer radikalen Ideologie, die die Existenz einer gesellschaftlichen Mitte leugnet und als Fiktion bezeichnet. Die Polarisierung wird damit noch verstärkt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Hier zeigt sich spiegelbildlich, wie Linke und Rechte aus unterschiedlichen Quellen zu demselben Ergebnis gelangen, denn auch auch Rechte bestreiten die Existenz einer gesellschaftlichen Mitte. Wer nicht links ist, ist rechts; wer nicht rechts ist, ist links – das ist das Denken der Extreme in Extremen. Auch der jüngst erschienene Blogpost, wonach liberale und faschistische Ideologien «einige Gemeinsamkeiten» aufwiesen, spiegelt den Extremismus der anderen Seite wider.

So, wie die extreme Linke glaubt, der Liberalismus sei nur die Vorhut rechter Ideologie, glaubt die extreme Rechte, er sei nur die Vorhut linker Ideologie. Am Ende verfallen beide in einen Anti-Liberalismus, wenngleich mit unterschiedlichen Begründungen. Während Rechte glauben, die Gesellschaft als ganze sei im Verfall begriffen, so liest man bei «Belltower News», dass «wir eine durch und durch rassistisch strukturierte Gesellschaft» seien.

Die politischen Ränder hassen die Mitte und stellen sie als Lüge dar

Nicht nur, dass dafür Belege angeführt werden. Auch bleibt es das Geheimnis der Redaktion, wie die Behauptung, Rassismus sei «schon immer Teil der Gesellschaftsmitte», mit dem Befund zusammenpasst, eine gesellschaftliche Mitte sei eine Fiktion. Nun kann mal all dies ungestraft in diesem Land behaupten. Doch glaubt irgendjemand ernsthaft, damit würde man die Zustimmung zur Demokratie in diesem Land stärken?

Was die finanzielle Förderung zivilgedsellschaftlichen Akteure betrifft, so gibt es zwischen Förderer und Gefördertem noch eine dritte Partei: Die der Gutachterinnen und Gutachter. Diese entstammen meist dem Universitätsbetrieb. Doch da die dortigen Fachbereiche immer auch soziale Milieus sind, in denen ein starker Anpassungsdruck herrscht, kann sich dies auf die Auswahl der als förderungswürdig Befundenen auswirken.

Die staatliche Förderung zivilgesellschaftlicher Akteure birgt daher die Gefahr, alles noch schlimmer zu machen und die Polarisierung in der Gesellschaft voranzutreiben, anstatt sie zu überwinden. Tatsächlich hat die Zivilgesellschaft gegen den Aufstieg der AfD nicht viel leisten können, ihr Einfluss wird überschätzt. Im Umgang mit dem vordringenden Autoritarismus in Gestalt der AfD sollte daher ein anderer Umgang erwogen und der AfD die Chance zu ihrer Verbürgerlichung gegeben werden.

Dazu sollten die Parteien eine Zusammenarbeit mit der AfD an Vorbedingungen knüpfen. So müsste sich die AfD-Führung, gleich auf welcher Ebene, verpflichten, ihren Ton zu mässigen, keine Stimmung gegen Migranten und andere Minderheiten (LGBTQ etc.) zu schüren und die Menschenwürde zu achten. Des weiteren sollte die AfD nur als Juniorpartner maximal in einer Landesregierung mitwirken dürfen, niemals jedoch als Seniorpartner und niemals im Bund.

Erst unter diesen Vorausssetzungen sollte man in Koalitionsverhandlungen mit ihr treten. Es ist gut möglich, dass die AfD die Vorbedingungen ablehnt. Dann freilich wäre der Ball in ihrem Feld und sie müsste sich von ihren Wählern fragen lassen, wie ernst sie es mit der Regierungsverantwortung wirklich meint. Oder sie akzeptiert die Vorbedingungen; dann besteht die Chance, dass die radikalen Mitglieder die Partei verlassen, bis aus der AfD irgendwann eine normale konservative Partei geworden ist.

Sicher, diese Strategie kann auch scheitern. Doch jetzt schon gescheitert sind alle Versuche, die AfD mithilfe der Zivilgesellschaft einzudämmen. Staatliche Einmischung in den Diskurs oder gar durch autoritäre Massnahmen wie das von Bundespräsident Steinmeier vorgeschlagene „soziale Pflichtjahr“ sind kontraproduktiv. Vielmehr müssen wir zu einer Rhetorik der Mässigung zurückkehren; Probleme benennen, ohne gleich in Untergangsszenarien zu verfallen; und auch etwas mehr Kulturoptimismus wagen.

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