8. Mai: Warum erinnern

Es geht nicht um kollektive Schuld, es geht nicht darum, etwas wiedergutzumachen, was niemand wiedergutmachen kann. Aber die Demokratie braucht Abwehrkräfte gegen alles, was sie bedroht. Und sie braucht sie vor allem, damit sich die schlimmste Katastrophe des 20. Jahrhunderts und überhaupt der Menschheitsgeschichte nicht wiederholt.

Graffito mit Zitat von Felix Kolmer (1922-2022)

„Ich kann keine Landkarte mehr sehen. Die Namen der Städte stinken nach verbranntem Fleisch„, notierte der jüdische Literat Elias Canetti kurz vor Kriegsende. Der Holocaust war die planmässige Ausrottung eines ganzen Volkes, der Juden, und begleitet von der massenhaften Tötung anderer, den nationalsozialistischen Herrschern als nicbht lebenswert geltenden Gruppen: Homosexuellen, Kommunisten, Sintiroma, Behinderte.

Die Nazis haben bekanntlich ihre Mordaktionen nicht auf Deutschland beschränkt, sondern auf andere europäische Länder ausgedehnt, wo sie vielfach willige Helfer fanden, ihnen Juden auszuliefern und sie umzubringen. Der Holocaust ist damit untrennbar verbunden mit dem Weltkrieg, in dessen Schatten und mit dessen Hilfe er stattfand.

War das Ende des Krieges eine Befreiung für alle?

Das Ende des Weltkrieges, das die Alliierten und vor allem die Sowjetunion herbeigeführt haben, war auch das Ende des Holocaust, der beispielllosen, industriellen Massentötung vor allem der Juden. Es war damit eine Befreiung für diejenigen, die die Konzentrationslager der Nazis überlebt haben. Aber war es auch eine Befreiung für alle anderen? Oder nur eine Niederlage?

Diejenigen, die begeistert beim Hiterlkult mitgemacht hatten., wollten die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands nicht als Befreiung empfinden und diejenigen, die im Osten Deutschlands erst unter die sowjetische Herrschaft und dann unter die der DDR gerieten, konnten dies ebensowenig – auch wenn die DDR, verglichen mit Nazideutschland, eine moderate Diktatur war.

Die DDR hat keine Gaskammern betrieben, keine Konzentrationslager errichtet und keine fremden Länder unterjocht. Dennoch war, wer in der DDR lebte, nicht frei. Die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands und damit das Ende des Weltkrieges hat auf politischer Ebene nur dem Westen Freiheit gebrach und nur dort, auf dem Gebiet der Bundesrepublik, hat es eine geistige Konfrontation mit den deutschen Verbrechen gegeben.

Diese freilich hat sich über Jahrzehnte hingezogen: Zuerst wollte man nicht viel von den Naziverbrechen wissen, dann gab es – nach den Nürnberger Prozessen – den Frankfurter Auschwitz-Prozess der 1960er Jahre, die zum Teil mit Freisprüchen endeten, dann tat man so, als seien die Verbrechen Nazideutschlands das Werk einer kleinen Elite gewesen, und dann erst, ab 1996, als Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ auf dem deutschen Buchmarkt erschien, gab es eine echte Wende.

Goldhagen schilderte u.a., wie kurz vor Ende des Krieges das Lager Helmbrechts (eine Aussenstelle von Flossenbürg) den Befehl Himmlers erreicht, dass die weitere Ermordung von Juden zu unterlassen sei. Schliesslich sollten die Deutschen nicht in flagranti von Alliierten beim Massenmord erwischt werden. Doch was taten die deutschen Wachmänner? Sie missachteten Himmlers Befehl und entschlossen sich, Juden weiter zu quälen und zu morden.

Die Mordlust, resümiert Goldhagen, ging noch bis zum letzten Augenblick des Krieges weiter: „Diese Deutschen waren keine gefühlskalten, nüchternen Vollstrecker höherer Befehle oder kognitiv und emotional neutrale Bürokraten, die ihren eigenen Taten teilnahmslos gegenüberstanden. Sie handelten aus eigenem Antrieb ohne wirkliche Kontrolle von oben; sie orientierten sich an ihrer eigenen Weltsicht, ihrem eigenen Rechtsempfinden – und sie handelten gegen ihr eigenes Interesse, das eigentlich darin hätte bestehen sollen, nicht mit Blut an den Händen in Gefangenschaft zu geraten.“

Mit dem Erscheinen von Goldhagens Buch wurde zum ersten mal breit darüber diskutiert, wie tief damals die Zustimmung für Hitlers Vernichtungswahn in den Köpfen der Bevölkerung verankert war. Nicht, dass dies vorher unbekannt gewesen wäre. Schon ein anderer Historiker, Sebastian Haffner, schrieb in seinen Erinnerungen, wie mit der Machtübernahme der Nazis jeder Widerstand dahingeschmolzen war: Die Nazis haben der deutschen Masse das Hakenkreuz aufgeprägt „wie in einen formlos-nachgiebigen, breiigen Teig.“

In jeder Hinsicht als Bruch mit Nazideutschland konzipiert

Dass die Öffentlichkeit von den Verbrechen wusste, hob der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer am 23. Februar 1946 in einem Brief an Pastor Custodis in Bonn hervor: „Die Judenpogrome 1933 und 1938 geschahen in aller Öffentlichkeit. Die Geiselmorde in Frankreich wurden von uns offiziell bekannt gegeben. Man kann nun also wirklich nicht behaupten, daß die Öffentlichkeit nicht gewußt habe, daß die nationalsozialistische Regierung und die Heeresleitung ständig aus Grundsatz gegen das Naturrecht, gegen die Haager Konvention und gegen die einfachsten Gebote der Menschlichkeit verstießen.“

Das Gedenken an den Tag der Kapitulation am 8. Mai (wie zuvor die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar) sind heute fester Bestandteil der politischen Kultur der wiedervereinigten Bundesrepublik, die nicht einfach nur die Fortsetzung der Weimarer Republik ist, sondern in jeder Hinsicht als Bruch mit Nazideutschland konzipiert wurde. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass das politische Personal der Anfangsjahre allzu häufig aus Altnazis bestand.

Das Verbot von Uniformen als Ausdruck politischer Gesinnung, das Verbot von Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der NS-Herrschaft, das Verbot von Zwangsarbeit, die Vermeidung von NS-SS-SA-etc.-Buchstabenkombinationen an Autokennzeichen, das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der menschlichen Würde im Grundgesetz, das Parteiengesetz, der öffentlich-rechtliche Rundfunk und vieles mehr, auch private Initiativen wie die „Stolpersteine“, gehören dazu.

Dass heute mit dem Gedenken an die Kapitulation des NS-Regimes ein „Schuldkult“ betrieben werde, ist eine bösartige Behauptung, die nur dazu dient, die Verbrechen Nazideutschlands zu verharmlosen. Dabei lehnt selbst der erwähnte Daniel Goldhagen die Vorstellung einer Kollektivschuld „kategorisch ab“, wie er im Vorwort der Neuausgabe seines Buches hervorhebt. Vielmehr dient das Gedenken an die Schrecken der NS-Herrschaft dazu, eine Wiederkehr zu verhindern.

Heute wird oft kritisiert, dass das dies zu einem blossen Ritual verkommen sei. Doch Ritual bedeutet Institutionalisierung und damit Verstetigung und schliesslich auch Anerkennung von Verantwortung. Dass dies überhaupt erst die Grundlage dafür bildet, mit den Opfern und ihren Nachkommen ein neues Kapitel der Geschichte aufzuschlagen, haben Menschen wie der tschechische Holocaustüberlebende Felix Kolmer gezeigt.

Denn die Verbrechen betreffen uns alle, insofern sie damals aus der Mitte der Gesellschaft gekommen waren. Darum ist es wichtig, dass wir uns erinnern: Weil wir selbst ein Interesse daran haben müssen, dass so etwas wie die nationalsozialistische Gewaltherrschaft nie wieder passiert. Geschichte kann man sich nicht aussuchen. Wer von den dunklen Momenten der Geschichte nichts wissen will, sollte auch von den lichten Momenten schweigen.

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