Das widerspenstige Gehirn

Vor mehr als dreissig Jahren machte ein Wort aus der Technik die Runde, die heute allgegenwรคrtig ist und auf deren Basis alle mรถglichen Haushaltsgerรคte operieren: Die Rede ist von der sogenannten «Fuzzy Logic», der unscharfen Logik, die, im Gegensatz zur binรคren Logik, nicht allein «wahr» und «falsch» unterscheidet, sondern auch unscharfe Mengen kennt. Anders als in der binรคren Logik kann in der Fuzzy Logic etwas auch teilweise wahr oder falsch sein. Das ist von Bedeutung auch fรผr Politik und Gesellschaft.

Denn der Grundgedanke der Fuzzy Logic entstammt nicht der Mathematik, sondern der Psychologie: In den 1970er Jahren hatte die amerikanische Psychologin Eleanor Rosch herausgefunden, dass unser Gehirn Sinneseindrรผcke nicht nach Klassen von Objekten ordnet, sondern nach Grundmustern (Prototypen). So entsprechen z.B. manche Vรถgel eher dem Grundmuster als andere, sie scheinen typischer zu sein. Der Wissenschaftsjournalist Christoph Drรถsser hat den Befund wie folgt zusammengefasst: » Wรถrter sind wie Wolken, die in der Mitte dicht und eindeutig sind und zum Rand hin immer dรผnner und ausgefranster werden (โ€ฆ).โ€œ

โ€žFixing brain png sticker illustrationโ€œ/ CC0 1.0

Wer das Wort «Vogel» hรถrt, wird folglich eher an einen Spatz oder eine Nachtigall denken als an einen Pinguin oder einen Kondor, obwohl auch diese als Vรถgel wahrgenommen werden. Das gleiche gilt auch fรผr andere Wรถrter, z.B. «Mensch» โ€“ und da liegt das Problem. Denn die Ordnung von Sinneseindrรผcken lรคsst sich nicht einfach abtrainieren. Manche Weltverbesserer wollen das nicht wahrhaben und glauben, รผber eine mรถglichst inklusive Sprache Diskriminierung in der Gesellschaft รผberwinden zu kรถnnen. Die Intention in allen Ehren, aber auf diese Weise wird das nicht funktionieren.

Zwar kann Sprache diskriminierend und sogar verletzend sein und im schlimmsten Fall ein gesellschaftliches Klima derart vergiften, dass Hetze in Gewalt umschlรคgt, wofรผr die Geschichte Beispiele zuhauf liefert, aber es lรคsst sich eben nicht der Umkehrschluss ziehen, dass eine inklusive Sprache zu mehr Inklusion in der Gesellschaft fรผhrt. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass die meisten Menschen, wenn sie «Person» oder «Leute» hรถren, eben nicht gender-neutral denken, sondern รผberwiegend an Mรคnner. Ergo ist eine gender-neutrale Sprache nicht imstande, unser Denken zu รคndern.

Wiederbelebung eines antiquierten Paradigmas

Tรผrkisch und Persisch sind รผbrigens zwei natรผrliche Sprachen, die keinen Unterschied machen zwischen «er» und «sie» (trk. o, pers. ลซ), zwischen «Lehrer» und «Lehrerin» (trk. รถฤŸretmen, pers. moสฟallem), «Journalist» und «Journalistin» (trk. gazeteci, pers. rลซznฤme-negฤr) usw. Deswegen jedoch anzunehmen, dass Gesellschaften, in denen Tรผrkisch und Persisch gesprochen werden, deshalb inklusiver wรคren, ist mehr als fragwรผrdig. Doch dies nur am Rande.

Denn hinzu kommt, dass das Gehirn nach der Pubertรคt weniger plastisch wird, was, wie der Psychoanalytiker Norman Doidge erlรคutert, der Grund dafรผr ist, warum es Menschen so schwerfรคllt, schlechte Angewohnheiten loszuwerden, haben diese einmal die Kontrolle รผber ein bestimmtes Gehirnareal gewonnen. Sich eine Gewohnheit anzugewรถhnen, ist deshalb leichter, als sie loszuwerden. Wenn der Volksmund sagt «Was Hรคnschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr», findet daher Rรผckhalt in der Forschung.

Der Glaube an die Allmacht der Sprache, die imstande sein soll, einen Zustand umfassender gesellschaftlicher Gerechtigkeit herzustellen, hat freilich eine lange Vorgeschichte. Schon vor zwei Jahrzehnten hat der Philosoph Klaus Oehler gegen Wittgenstein und Habermas, die Vordenker dieser Schule, ins Feld gefรผhrt, dass die sprachanalytische Philosophie mit โ€žihrem antiquierten sprachlichen Paradigmaโ€Ÿ ein Irrweg sei, der die Erkenntnisse der Neurophysiologie und Neuropsychologie ignoriere.

In jรผngerer Zeit ist es die Journalistin Kรผbra GรผmรผลŸay, die mit diesem sprachlichen Paradigma Auflage macht. So berichtet sie in ihrem Buch «Sprache und Sein» (2020) sie von einem Erlebnis am Mittelmeer, wie sie zu abendlicher Stunde erst in dem Augenblick den Widerschein des Mondglanzes im nรคchtlichen Meer wahrgenommen habe, als sie erfuhr, dass die tรผrkische Sprache dafรผr ein eigenes Wort hat.

Das Wort yakamoz («Aufleuchten des Meeres zur Nachtzeit», bzw. yakamozlanmak als Verb), das sich im Deutschen nur umschreiben lรคsst, veranlasste GรผmรผลŸay allen Ernstes zur rhetorisch gemeinten Frage, ob Menschen, die das Wort yakamoz nicht kennen, wohl auch in der Lage seien, den Mondglanz im nรคchtlichen Meer zu erblicken. «Weil ich das Wort kenne», so ihre geistreiche Schlussfolgerung, «nehme ich wahr, was es benennt.»

Wem also das Wort yakamoz unbekannt ist und auch keine Entsprechung dafรผr in seiner Muttersprache findet, wird fรผr den Widerschein des Mondglanzes im nรคchtlichen Meer folglich weniger empfรคnglich sein โ€“ eine These, mit der man es hierzulande zu grosser Popularitรคt bringen kann, obgleich GรผmรผลŸays Buch vom Feuilleton eher gemischt aufgenommen wurde. Aber ethno-elitรคres Gehabe, das den eigenen Migrationshintergrund zum intellektuellen Distinktionsmerkmal verklรคrt, ist derzeit gross in Mode.

Trugschluss der idealistischen Schule

So schwimmt GรผmรผลŸay ganz oben auf der Welle eines Sprachverstรคndnisses, das sie u.a. mit dem Soziologen Jรผrgen Habermas teilt, fรผr den die Sprache eine Art unhintergehbares transzendentales Raster darstellt, was auf scharfe Kritik des erwรคhnten Klaus Oehler stiess, der mit Verweis auf den Pragmatismus eines Charles Sanders Peirce die Debatte auf den Boden der Vernunft zurรผckholte, indem er feststellte, dass es nichts in der menschlichen Welt gibt, das seine eigenen Voraussetzungen garantieren kann.

Dass man eines Wortes wie yakamoz bedarf, um den Mondglanz im nรคchtlichen Meer wahrzunehmen, ist ein Trugschluss der idealistischen Schule. Auch Konstruktionen vermeintlich inklusiver und gerechtigkeitsfรถrdernder Sprachen, die eine herrschaftsfreie Kommunikation bewirken sollen, sind auf diesem Humus gewachsen, was Oehler spรถttisch mit den Worten quittierte, die These vom sogenannten herrschaftsfreien Dialog sei «eine Droge fรผr Intellektuelle mit schwachen Nerven.»

Was also tun gegen Diskriminierungen welcher Art auch immer? Die einfache Wahrheit: Dagegen hilft nur bรผrgerschaftliches Engagement, wieder und wieder. Das Individuum ist gefragt, wenn es darum geht, Diskriminierung entgegenzutreten, sie zu unterbinden oder gar nicht erst zuzulassen. Wir kรถnnen die individuelle Verantwortung schon deshalb nicht an die Sprache delegieren, weil das widerspenstige Gehirn nicht mitmacht.


Nachtrag 21. Juni 2022

In einem Beitrag fรผr Spektrum.de verweist der Psychologe Steve Ayan zunรคchst auf eine Studie, wonach Menschen bei gegenderten Formen «stรคrker an weibliche Vertreter einer Zunft» denken sollen, wendet jedoch ein, dass dies nur ein kurzfristiger Effekt sei, weil gegenderte Formen irgendwann ihren Signalcharakter einbรผssen. Auch andere Grรผnde, die er auflistet, lassen eine gegenderte Sprache fragwรผrdig erscheinen, sodass Ayan resรผmiert, man solle nicht so «blauรคugig sein, zu glauben, dass die Welt schon eine andere ist, weil man anders redet.»

Nachtrag 22. Juni 2022

Im Interview mit der «Berliner Zeitung», zu deren Redaktion er gehรถrt, erklรคrt Ingo Meyer, warum er gegen die Gendersprache ist: «Ich glaube nicht, dass Gendersprache sich in der Bevรถlkerung durchsetzt, dafรผr ist sie zu kompliziert. Sprache tendiert immer zum Simplen, zur Effizienz. Die Gendersprache ist das Gegenteil davon. «

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