Netanjahu gegen Israel?

Israels Premier ist der längste amtierende Ministerpräsident seines Landes. Er könnte auch als der tagischste in die Geschichtsbücher eingehen. Denn er führt einen Krieg, den er nicht gewinnen kann, und der, je länger er dauert, der Hamas mehr hilft, als dass er sie zerstört.

„Israeli PM Netanyahu Addresses Reporters“ von U.S. Department of State/ CC0 1.0

All das Leid und das Elend im Gazastreifen und all die Zerstörungen dort gehen zuallererst und hauptsächlich auf das Konto der Hamas – einer Terrororganisation, die nicht nur auf grausame Weise israelische und andere Bürger abgeschlachtet oder entführt hat, sondern auch in Kauf nimmt, dass die eigene Bevölkerung leidet. Sie hätte die Geiseln längst freilassen und den Krieg beenden können.

Hinzu kommen die koodinierten Angriffe anderer Terroristen, der Houthis und der Hisbollah – allesamt mit der Islamischen Republik in Teheran verbunden –, die Israel an insgesamt sieben Fronten angreifen und es zu zerstören suchen. Keiner der Angriffe war von Israel in irgendeiner Weise provoziert worden, denn der sog. „Achse des Widerstands“ geht es nicht um ein besseres Leben für die lokale arabische Bevölkerung, sondern um die Schaffung eines Nahen Ostens ohne Israel.

Es ist beispiellos, was hier geschieht. Kein anderer Staat der Welt, vielleicht mit Ausnahme der Ukraine, sieht sich derzeit einer solchen Bedrohung der eigenen Existenz ausgesetzt wie Israel, das alles Recht der Welt hat, sich mit Waffengewalt zu verteidigen. Es hat auch das Völkerrecht auf seiner Seite, indem es humanitäre Hilfen dem Gazastreifen vorenthalten darf, wenn der Feind sie in die eigenen Hände umzuleiten droht.

Israel bräuchte vielmehr Soldaten, als es aufbringen kann

Das Völkerrecht freilich ist das eine, die Bilder sind das andere. Je länger der Krieg andauert, desto mehr werden Bilder von der Art produziert, die den Feinden Israels in die Karten spielen – Bilder von Zerstörungen und palästinensischem Leid, die die Vorgeschichte des Konflikts ausklammern, während das Narrativ von einem israelischen Blutrausch wieder und wieder bedient wird.

Israels Premier Netanjahu will zwar mit der fortgesetzten Kampagne der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen verhindern, dass ein Massaker wie das vom 7. Oktober jenals wieder geschehen kann. Doch soll dazu der Gazastreifen dauerhaft unter Kontrolle der Armee gebracht werden, was ein Ding der Unmöglichkeit ist. Nach Angaben des österreichischen Militärexperten Matthias Wasinger jedenfalls fehlen der Armee dafür die Ressourcen.

Im Klartext: Israel bräuchte 300.000 Soldaten im aktiven Einsatz. Es verfügt jedoch nur über 170.000 stehende Streitkräfte und 400.000 Reservisten. Damit lässt sich der Gazastreifen nicht dauerhaft kontrollieren, zumal auch noch längerfristige Operationen im Libanon oder im Syrien durchgeführt werden sollen. Zusätzliche Reservisten aus den Reihen der Ultraorthodoxen einzuziehen hat sich in der Praxis als schwierig erwiesen.

Dann ist da noch der Fall Ronen Bar: Der Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet soll einer angeblichen Unterwanderung der Polizei durch jüdische Extremisten und der Bestechung von Regierungsmitgliedern durch Qatar („Qatargate“) auf der Spur gewesen sein, wurde dann aber überraschend von Premier Netanjahu entlassen. Die Entlassung wurde vom Obersten Gerichtshof Israels (Bagatz) für unrechtmässig erklärt. Einen Nachfolger darf Netanjahu nicht ernennen, er tut es aber dennoch, weil der Krieg zur Eile zwingt, wie er sagt.

Das Verdikt kam vom selben Gerichtshof, dessen Befugnisse Netanjahu einst hatte beschneiden wollen. Ob es eine solche Unterwanderung gibt und ob an Qatargate etwas daran ist, ist unbewiesen, aber der Verdacht und die illegale Entlassung Bars sind geeignet, in Israel selbst Misstrauen an den Institutionen der Demokratie zu säen. Eine Krise der Demokratie ist jedoch das letzte, was Israel angesichts der siebenfachen äusseren Bedrohung jetzt gebrauchen kann.

Doch es kommt noch schlimmer. Denn die Wirtschaft leidet, aber noch mehr das Sozialleben des Landes. „Israeliness is familyness“ schreibt der israelische Journalist Ari Shavit in seinem Buch „My Promised Land“ – israelisches Leben ist Familienleben. Dem Familienleben wird mit einem langen Krieg eine besonders schwere Bürde auferlegt. Soldaten bleiben viel länger an der Front, als dies in früheren Kriegen der Fall war, und sind gezwungen, ihre Familien zu vernachlässigen.

Netanjahu liefert Israels Feinden einen Vorwand, das Land zu ächten

Sicher, Netanjahu will die letzten, noch in Händen der Hamas verbliebenen Geiseln befreien, nachdem Verhandlungen ergebnislos verlaufen sind, und die Infrastruktur des Terrors zerstören. Beides ist fraglos legitim. Aber wenn die Hamas ihre Geiseln nicht gegen eigene Terroristen eintauschen kann, die in israelischen Gefängnissen sitzen, dann könnte sie versucht sein, sie zu töten. Was bringt es da, im Gazastreifen das Unterste zuoberst zu kehren?

Netanjahu geht aber noch weiter und lässt deren Bewohner dauerhaft umsiedeln, womit er den Feinden Israels einen willkommenen Vorwand liefert, ihn und das ganze Land wegen mutmasslicher Kriegsverbrechen zu ächten und international strafgerichtlich zu verfolgen. Für die Sicherheit Israels ist damit nichts gewonnen, denn – siehe oben – die israelische Truppenstärke ist zu gering und wird auch im Libanon gebraucht, wo jetzt die Chance besteht, das Land endgültig aus dem Würgegriff der Hisbollah zu befreien.

Israel muss innerlich stark sein, um es auch nach aussen hin sein zu können. Doch die Unzufriedenheit mit der Regierung wächst, je länger der Krieg dauert . Ob die Fortsetzung des Krieges von Netanjahu nur deshalb gewollt ist, Ermittlungen gegen ihn wegen Korruption hinauszuzögern, darf bezweifelt werden. Wahrscheinlicher ist, dass Netanjahu nicht damit klarkommt, dass unter seiner Ägide das grausamste Massaker an Israelis seit der Unabhängigkeit des Staates verübt wurde. Sollte dies der Fall sein, dann wäre es einfach nur tragisch.


Nachtrag 25. Mai 2025

(Die Zahl der Soldaten zur Kontrolle des Gazastreifens wurde präzisiert.)

Nachtrag 30. Mai 2025

Die Marburger Juristin Stefanie Bock schreibt geht auf dem „Verfassungsblog“ der Frage nach, was das Völkerrecht zum israelischen Vorgehen im Gazastreifen sagt. Ihrer Argumentation ist mindestens in einem Punkt zuzustimmen: „Je länger die militärische Gewaltanwendung und das damit verbundene Leid der Zivilbevölkerung anhält, desto schwächer wird der Bezug zum mittlerweile über 15 Monate zurückliegenden Terrorangriff der Hamas und damit zum israelischen Selbstverteidigungsrecht.“ Dass der humanitär-völkerrechtliche Unterscheidungsgrundsatz zwischen Kombattanten und Zivilisten von Israel missachtet werde, ist allerdings eine fragliche Behauptung, wo doch die Hamas selbst darauf verzichtet, ihre Angehörigen durch Uniformen kenntlich zu machen.

Nachtrag 31. Mai 2025

Der ehemalige israelische Ministerpsärident Ehud Olmert schreibt in einem Meinungsbeitrag für die linke „Haaretz“: „Ehud Olmert: „The government of Israel is currently waging a war without purpose, without goals or clear planning and with no chances of success.“ Er nennt die ganze militärische Operation, die Anfang 2024 hätte beendet werden müssen, einen „Privatkrieg“ Netanjahus. Olmert, der lange Zeit die Regierung Netanjahu kritisiert, Vorwürfe, Israel begehe Kriegsverbrechen, aber stets zurückgewiesen hat, sagt, dass er diese Einstellung nicht länger aufrechterhalten könne. Was im Gazastreifen geschehe, sei nicht das Fehlverhalten einzelner Soldaten oder ein Kontrollverlust der Armeeführung, sondern Kriegsverbrechen als Ergebnis polititischer Vorgaben. Die Regierung Netanjahu nennt er „the enemy from within“.

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