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Politische Theorie

Hannah Arendt lesen (2/4)

Zu den Glanzstücken von Hannah Arendts Werk gehört, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen nationalsozialistischer und bolschewistischer Herrschaft herausgearbeitet haben, die sie beide als Manifestationen eines einzigen Totalitarismus begreift, auch wenn der Holocaust ohne Parallele in der Geschichte bleibt.

«Portret Hitler het raam uit» by rijksmuseum/ CC0 1.0

Ein Wesenszug totalitärer Führer, so Arendt, liegt zunächst darin, dass sie kein Geheimnis aus ihren Grausamkeiten machen. Sie verlassen sich darauf, dass die Menschen diese Grausamkeiten ebenso fürchten wie bewundern, wobei sie an pöbelhafte Instinkte appellieren. Ihre Anhänger sind nicht nur emapthielos gegenüber Morden an politischen Gegnern, sondern auch gegenüber solchen in den eigenen Reihen.

Wenn Scharlatane und Narren Kompetenz verdrängen

Totale Herrschaft ist mehr als eine Tyrannei und immer antibürgerlich eingestellt. Sie braucht grosse Menschenmassen, sowohl zur Inszenierung der eigenen Macht, als auch, um sie massenhaft vernichten zu können. Während Hitler eine zerfallende Gesellschaft nutzte, um eine Bewegung zu schaffen, so musste Stalin zuerst eine zerfallene Masse herstellen, indem er die neuen Klassen der Sowjetunion liquidierte, so Arendt.

Die Führer der totalitären Bewegungen entstammten dem Mob und standen, wie schon die Glücksritter der imperialistischen Epoche ausserhalb des Klassen- und Nationalstaatensystems der europäischen Völker. Ihre eigene politische Karriere hatten sie oft genug nur deswegen begonnen, weil ihnen ein normaler Beruf verwehrt war. Ihre Anziehungskraft, so Arendt, verführte die intellektuelle Elite wie den Mob zum totalitären Terror.

Diese Anziehungskraft lag nicht einfach in der Kunst des Lügens, sondern in dem Geschick, die Gesellschaft nach ihren Lügen zu formen. Gerade weil die Elite glaubte, in einer Welt der Doppelmoral zu leben, erschien ihr Grausamkeit gerechtfertigt und übernahm sie die Massstäbe des Pöbels. Hat die totalitäre Bewegung erst einmal die Macht ergriffen, wird sie alle Fachleute durch «Scharlatane und Narren» ersetzen, so Arendt.

Nach dem Verfall beruflicher Standards wird der Terror zur neuen Normalität, dem eine immer grössere Anzahl unschuldiger Menschen zum Opfer fällt, wobei sich die Frage nach dem Nutzen nicht stellt, wie Arendt zeigt: Die Bolschewisten liessen Millionen in Arbeitslagern verrecken, weil sie sie nach dem Gesetz der Geschichte bereits als zum Sterben verurteilt sahen; die Nazis begründeten ihre Massenvernichtungen mit einer vermeintlichen Bestimmung durch die Biologie.

Was für Stalin die „absterbenden Klassen“ waren, waren für Hitler daher die „absterbenden Gesellschaftsschichten“. Eine Parallele liegt auch darin, dass die Bolschewisten von ihren Mitgliedern einen Nachweis ihrer Klassenabstammung verlangten, die Nazis von jedem Mitglied den Nachweis nichtjüdischer Abstammung. Dabei, so Arendt, ist letztlich gleichgültig, ob man sich auf Gesetze der Geschichte oder der Natur beruft.

Kennzeichen der totalitären Bewegungen des Nazismus wie des Bolschewismus ist die Entleerung aller Inhalte und die Bewegung als Zweck ihrer selbst. Für Hitler war der Staat nur ein Mittel zum Zweck der Erhaltung der Rasse, für den Bolschewismus nur Mittel zum Zweck des Klassenkampfes; zugleich war die Volksgemeinschaft der Nazis, so Arendt, die Antwort auf die klassenlose Gesellschaft der Kommunisten.

Die Durchschlagskraft totalitärer Propaganda beruht darauf, „dass Massen an die Realität der sichtbaren Welt nicht glauben», so Arendt, und sich durch Tatsachen nicht überzeugen lassen. Ihnen geht es nie um ein bestimmtes Ziel, sondern allein um den Sieg der Bewegung. In der totalitären Bewegung selbst gibt es eine Unmittelbarkeit der Macht, sodass Funktionäre keine wirkliche Autorität haben.

Die Frontorganisationen schirmen die Sympathisanten von der Wirklichkeit ab; sie betrachten sich als Vorfeld-Elite einer immer weiter um sich greifenden Bewegung. Die Menschheit wird in Anhänger und Feinde aufgeteilt, wobei sie glauben, die Mehrheit der Gesellschaft stünde auf die eine oder Weise hinter ihnen und sei nur träge, während eine Minderheit gerissen, aber letztlich machtlos sei.

Die Nazis brachen mit der militärischen Tradition Deutschlands

Die Bewegung aber expandiert nicht nur, sondern muss sich nach innen hin beständig neu disziplinieren. Daher müssen immer neue, radikalere Schichten in die Bewegung eingefügt werden, die die älteren, als weniger zuverlässig geltenden Schichten, vom Kern der Bewegung weg in die Frontorganisationen treibt. Zu diesem Prozess, so Arendt, gehört auch, dass die Nazis nach der Machtergreifung die Reichswehr den Eliteverbänden unterstellte.

Damit brachen die Nazis mit der militärischen Tradition Deutschlands, waren sie doch keine Militaristen im eigentlichen Sinne des Wortes. Ihnen ging es weniger um eine Glorifizierung alles Militärischen, sondern um die Praxis des öffentlichen Mordens als Ausdruck kämpferischer Gesinnung, so Arendt. Die Armee zu übernehmen war hingegen kaum möglich, ihre zuverlässigste Stütze war die Polizei.

Die Eliteformationen haben, anders als die Frontorganisationen, den Zweck, die Umwelt von der Gefährlichkeit der Bewegung zu überzeugen. Ihre Morde geben sie gerne in aller Öffentlichkeit zu. Nach dem Krieg sollte Deutschlands späterer Bundeskanzler Konrad Adenauer in einem Brief an einen Pastor daran erinnern, , dass Grausamkeiten wie die Judenpogrome von 1933 und 1938 in aller Öffentlichkeit geschahen und die Öffentlichkeit nicht behaupten könne, nichts gewusst zu haben.

Die oben erwähnte «Unmittelbarkeit der Macht» bedeutet: Die totalitäre Bewegung ist alles durch ihren Führer oder sie ist nichts. Ihr Führer übernimmt die totale Verantwortlichkeit für alle Taten oder Untaten der Nazis oder Bolschewiken, sodass jeder Funktionär als seine direkte Verkörperung erscheint. Das unterscheidet den totalitären Führer wesentlich von einem gewöhnlichen Diktator, der immer versuchen wird, Verantwortung abzuwälzen, so Arendt.

Totalitäre Bewegungen sind ähnlich den Geheimgesellschaften strukturiert, mit denen Hitler und Stalin Erfahrungen gemacht hatten, bevor sie zu totalitären Führern aufstiegen: Hitler kam aus dem Spitzeldienst der Reichswehr, Stalin aus dem konspirativen Apparat der kommunistischen Partei. Die mumifizierte Leiche Lenins oder die Blutfahne der Nazis werden damit zu «Attrappen des Mysteriösen», so Arendt, um ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu schaffen.

Teil 3 erscheint nächsten Sonntag.


Hier geht es zu Teil 1.

Von Michael Kreutz

Orientalist (Dr. phil.), Politologe & Kulturjournalist. Website: www.michaelkreutz.net

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