In Oberhausen wurde ein russisch-polnischer Supermarkt angegriffen, auf der Frankfurter Buchmesse werden voraussichtlich nur wenige russische Verlage vertreten sein, in Warschau wird die Oper eines russischen Komponisten abgesagt, ein baden-wรผrttembergisches Restaurant wollte keine russischen Gรคste mehr bedienen, eine italienische Universitรคt verschiebt ein Seminar รผber Dostojewskij โ was soll das?

Die Ausgrenzung von Russen und russischer Kultur ist eine Schande! Die Welt hat ein Problem mit Putin und seiner Clique โ nicht mit den Russen und nicht mit der russischen Kultur.
Auch dass die russischstรคmmige Operndiva Anna Netrebko keine Engagements mehr erhรคlt, weil sie sich zwar gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen, aber nicht explizit von Wladimir Putin distanziert hat, lรถst in mir ein ungutes Gefรผhl aus. (Der Fall Gergijev ist allerdings anders gelagert.)
Korrupte Regime wie das von Putin neigen dazu, die eigene Bevรถlkerung moralisch zu korrumpieren. Fรผr Kรผnstler, selbst wenn sie im Ausland leben, ist es ausserdem nicht eben ratsam, sich รถffentlich gegen Machtmenschen wie Putin zu stellen, solange sie noch Familie im Land haben. Iraner in der Diaspora kennen das, ebenso Chinesen.
Meinetwegen kรถnnten sogar RT Deutsch und Sputnik ihre putinistische Stuss-Propaganda in Europa weiterverbreiten, die ohnehin nur bei Rechtspopulisten, Esoterikern und Impfgegnern verfรคngt. Putin mag Russland als eine gegen den Westen gerichtete Zivilisation betrachten, aber das sollte nicht zu spiegelbildlichen Reaktionen im Westen selbst fรผhren.
Besser wรคre es, wenn wir uns mit der Ukraine solidarisierten und zugleich Sympathie fรผr die russische Bevรถlkerung, Sprache und Kultur bekundeten. Gerechtfertigte Sanktionsmassnahmen dรผrfen nicht in eine schรคndliche Russophobie ausarten, die obendrein Putin in seinem Verfolgungswahn bestรคrken wรผrde.
Nachtrag 6. Mรคrz 2022
In der «Welt am Sonntag» (gedruckte Ausgabe, Nr. 10 vom 6. Mรคrz, S. 43, Titel «Der Vorhang fรคllt») drรผckt Christian Meier sein Unbehagen gegenรผber den Absagen an russische Kรผnstler aus und erinnert daran, «dass auch ein Peter Handke, der in den Balkankriegen ‚Gerechtigkeit fรผr Serbien‘ forderte und spรคter am Begrรคbnis fรผr Slobodan Milosevic teilnahm, am Ende den Literaturnobelpreis bekam. รber Handkes Jugoslawien-Bรผcher wurde gestritten, doch wurden sie โ zu Recht โ nie aus dem Sortiment genommen. Hier unterschied man zwischen dem literarischen Werk und einer politischen Haltung โฆ» Meier plรคdiert dafรผr, dass wir uns «eine grundsรคtzliche Offenheit auch in der Krise bewahren«.
Nachtrag 7. Mรคrz 2022
Unter der รberschrift «Jede Anfeindung gegen Russen ist eine zu viel» kommentiert Thomas Schmoll auf n-tv: «Das russische Volk ist nicht unser Feind. Die Verbrechen, die gegen die Ukraine begangen werden, haben Putin und seine Vasallen zu verantworten.» Er ruft dazu auf, niemanden in Sippenhaftung zu nehmen, nur weil er Russisch spricht.
Nachtrag 10. Mรคrz 2022
Im «Tablet»-Magazin macht Jacob Siegel seiner Empรถrung darรผber Luft, dass in den USA der Kampf gegen Putin vielfach in einem Kampf gegen alles Russische ausgeartet ist. Er sieht darin einen neuen fremdenfeindlichen Populismus, der dieses Mal nicht von den Massen kommt, sondern von Kรผnstlern, Politikern und Institutionen, die vielfach keine Russen beschรคftigen wollen, wenn diese sich nicht รถffentlich von Putin distanzieren: «โthe kind of thing I was raised to believe happened in Russia, not the United States.»
Nachtrag 13. Mรคrz 2022
Sehr beschรคmend: Wie die «Welt» vermeldet, hat es bislang «hunderte» รbergriffe auf Russen in Deutschland gegeben.
Nachtrag 1. April 2022
Leider kein Aprilscherz: Nachdem sich Anna Netrebko vom Krieg gegen die Ukraine distanziert hat, ist sie in Russland in Ungnade gefallen. Das Konzerthaus NOVAT in Nowosibirsk lud sie mit der Begrรผndung aus, Netrebko verurteile das Vorgehen des russischen Staates; es sei jetzt an der Zeit, eine Wahl zu treffen. Zudem gebe es genรผgend Talente im eigenen Land, die einzusetzen mรถglich sei.
Nachtrag 13. April 2022
Wie die FAZ unter Berufung auf eine franzรถsische Studie des Pariser Instituts fรผr Meinungsforschung (IFOP) berichtet, geht Impfgegnerschaft hรคufig mit ideologischer Nรคhe zum Putin-Regime einher: «Die russische Propaganda gedeiht inmitten der Covid-Verschwรถrungen. Die Studie belegt diesen Befund mit รberschneidungen und beschreibt, wie Impfskeptiker zu Putin-Sympathisanten mutieren.»
