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Politische Theorie

Hannah Arendt lesen (1/4)

War die bekannte politische Theoretiken, deren Todestag sich in diesem Monat zum fünfzigsten Mal jährt, eigentlich eine Linke? Jedenfalls wurde sie lange als eine solche in Beschlag genommen und als Ikone des Antikapitalismus und der Kritik an Israel gehandelt. Doch Arendt war keine Linke. Freilich, eine Liberale war sie auch nicht.

«Auschwitz Birkenau«/ CC0 1.0

Von den linken Studenten der 68er-Bewegung hielt sie nicht viel. Revolutionäre zu sein, sprach sie ihen ab. Von Macht haben sie keine Ahung, fähig seien sie nur zu Radau und Sprechchören. Die politischen Ideen von Studentenführer Rudi Dutschke verachtete sie als «utopischen Unsinn», seine Forderung nach einer Herausbildung des neuen Menschen als Rezept für Gewaltherrschaft.

Das ganze Leiden an den NS-Verbrechen hielt Arendt für wenig authentisch; der Eichmann-Prozess und das Aufsehen, das das Tagebuch der Anne Frank hervorrief, dienten den Studenten nur als Vorwand, um gegenwärtigen Problemen durch eine «Flucht in Gefühle, also durch Sentimentalität», zu entkommen. Nein, an der 68er-Bewegung liess sie kein gutes Haar. Aber auch sie selbst stand im Kreuzfeuer der Kritik – und die kam nicht von links.

Arendts Thesen in der Diskussion

Ihr vielleicht bekantestes Buch handelt vom Eichmann-Prozess und ist mit dem geflügelten Wort von der «Banalität des Bösen» betitelt, was nicht ohne erheblichen Widerspruch blieb. Der Philosoph Isaiah Berlin hielt Arendts These entgegen, dass die Nazis nicht banal waren; «Eichmann», so urteilte er, «war von dem, was er tat, fest überzeugt, es bildete, wie er selbst zugab, die Mitte seiner Existenz.»

Freilich überzog Berlin seine Kritik an Arendt masslos, wenn bei ihr «keinerlei Anzeichen von ernsthaftem philosophischen oder historischen Denken» sehen will. Berlin sah sich hier auf einer Linie mit dem Religionshistoriker Gershom Scholem, der gesagt haben soll, dass kein ernsthafter Mensch Arendt bewundere. Man fragt sich, ob diese vernichtende Kritik auch formuliert worden wäre, wäre Arendt ein Mann gewesen.

Auch dass Arendt in ihrem Buch über «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» den italienischen Faschismus in einem, verglichen mit dem Nationalsozialismus, milden Licht zeichnet, hat Berlin scharf zurückgewiesen; es sei ein von Arendt in die Welt gesetzter Mythos, dass der italienische Faschismus seinem Wesen nach moderater gewesen sei als der deutsche Nationalsozialismus.

Arendt hatte behauptet, dass der faschistische Staat keine totalitären Tendenzen habe, vielmehr um die Idee des korporativen Staates kreise, der sich damit begnüge, die Gesellschaft gewissermassen zu verstaatlichen. Die Nazis haben sich davon schon vor der Machtergreifung distanziert, weil sie sich nicht auf ein festes Ziel festlegen wollten.

Es hat allerdings Historiker wie Yosef Hayim Yerushalmi (u.a. Lehrer des Münchner Historikers Michael Brenner) gegeben, die Arendt darin bestätigen. Allerdings kritisierte Yerushalmi die Behauptung von Arendt, wonach Juden «keine politische Tradition oder Erfahrung hatten», was die bisher ungeschriebene Geschichte jüdischer Diplomatie widerlege und bis auf die Zeit der Bibel zurückgehe.

Antisemitismus als politische Bewegung

Ansonsten hat Yerushalmi für Arendts Buch «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» viel Lob übrig, das man in der Tat als ihr bedeutendestes Werk betrachten kann. Darin zeichnet sie zunächst den Antisemitismus als politische Bewegung nach und zeigt, wie diese nicht nur von Anfang ein gesamteuropäisches Phänomen war, sondern sich gegen das Konzept der Nation richtete.

Dementsprechend verstanden sich die vielen kleinen antisemitischen Parteien als über dem Parteisystem stehend. Ihr Anliegen war keine revolutionäre Neuordnung der Gesellschaft, sondern die Beseitigung des Nationalstaates. An dessen Stelle setzten sie einen völkischen Volksbegriff, der der nationalen Volksidee diametral entgegenstand. Das völkische Denken, so Arendt, läuft auf eine supranationale Volksidee hinaus, also eine pure Abstammungsgemeinschaft oberhalb der Nationen und ohne territoriale Bindungen.

Für die Antisemiten schienen aber gerade die Juden ein solches völkisches Volk zu sein, der ihren Ambitionen jedoch entgegenstand – genau wie der Adel, für den Familie, Abstammung und Heirat über Landesgrenzen hinweg kennzeichnend waren. Dabei war die Propaganda der völkischen Antisemitenparteien ambivalent, so Arendt, indem es nationales Empfinden mobilisierte und gleichzeitig vergiftete. In Deutschland war dies stärker der Fall als in Frankreich, wo der Antisemitismus keine supranationalen, imperialistischen Elemente aufwies.

Anders als in Deutschland war in Frankreich die Überrzeugung, die Juden als kosmisches Bösen zu betrachten und ihre Ausrottung als Allheilmittel für alle Nöte der Zeit, in Frankreich niemals virulent geworden, wo es trotz aller Kämpfe und Zerfallsprozesse niemals eine echte antinationale Bewegung gegeben hat. Obwohl Frankreich eine Kolonialmacht war, war nach Arendt der Imperialismus als Überzeugung kaum in der Politik verwurzelt.

Die unter Liberalen gängige Behauptung, wonach die Nazidiktatur sei aus einer typisch deutschen Staatsvergötterung hervorgegangen sei, hält Arendt für ein „törichte Vorurteil“, wo doch eine totalitäre Bewegung erst zustande kommt, nachdem „ein völliger Zusammenbruch (…) ganz gewöhnlicher staatsbürgerlicher Gesinnung stattgefunden hat“, der für sie eng mit dem Nationalstaatsgedanken verbunden ist.

Den Zerfall des Nationalstaats bezeichnete Hannah Arendt denn auch als die «Krankheit des neunzehnten Jahrhunderts». Der Antisemitismus nahm genau in dem Masse zu, „in dem das traditionelle Nationalgefühl und das rein nationalistische Denken an Intensität abnahmen, um seinen Höhepunkt in dem Augenblick zu erreichen, als das europäische Nationalstaatensystem zusammenbrach.“

«Mahlstrom magischer Mächte»

Die Geschichte der antisemitischen Bewegung „spricht deutlich gegen jede Identifizierung von Nationalismus und Antisemitismus“, so Arendt weiter. In Osteuropa, so ihre Beobachtung, wo es keine Nationalstaatsbildung gab, war auch die Judenemanzipation ausgeblieben. Die jüdische Existenz in Europa war an das Nationalstaatssystem gebunden.

Begleitet wurde der Antisemitismus vom Imperialismus, der sich vom frühen Kolonialismus darin unterscheidet, dass er die Expansion um der Expansion willen betrieb. Unter seiner Herrschaft gab es nur noch Dekrete, die der Situation angepasst waren; Verträge und Gesetze hingegen konnten dem „Mahlstrom magischer Mächte“, so Arendt, nur im Wege stehen.

Der Imperialismus bereitete genau damit aber den Untergang des Nationalstaates vor, wobei sich Mob und Kapital verbündeten. Arendt unterscheidet dabei zwischen Nationalstaat und Nationalismus, denn den Nationalisten galten die Juden als nichteuropäsches Volk. Doch es war der Imperialismus, der der europäischen Solidarität ein Ende setzte, was für die Juden eine Katastrophe bedeutete.

Zur jüdischen Geschichtserfahrung gehört, so Arendt, dass die Juden von den Obrigkeiten eines Gebietes immer noch die beste Behandlung erwarten konnten, während die eigentliche Gefahrenquelle immer das gemeine Volk war. In der NS-Herrschaft sollte sich die Obrigkeit mit dem antisemitischen Mob verbünden.

Teil 2 erscheint nächsten Sonntag.

Von Michael Kreutz

Orientalist (Dr. phil.), Politologe & Kulturjournalist. Website: www.michaelkreutz.net

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